Am 6. Oktober 1999 gegen 16:45 Uhr fuhren zwei junge Männer mit einem grünen Moped der Marke "Simson" an einer Chemnitzer Postfiliale vor und stürmten in den Schalterraum. Einer von ihnen sprang über den Schaltertresen, verlangte Bargeld und drohte, die Angestellte zu erschießen. Die Räuber kassierten 5787 Mark und verschwanden. Drei Wochen später überfielen sie ein anderes Postamt in Chemnitz und nahmen 62.822 Mark mit.
Wenn sie nur kleine Scheine erhielten, wie 2004 in einer Sparkasse, brüllten sie schon mal: "Seid ihr eine beschissene Bank oder ein Kleingartenverein?" In zwölf Jahren suchten die beiden Männer 14 Postämter und Sparkassen in Sachsen und in Thüringen heim. Insgesamt erbeuteten sie 619.770 Euro. Nach dem letzten Überfall im November 2011 wurden sie entdeckt und nahmen sich in einem Wohnmobil das Leben. Zwölf Jahre lang hatten die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ihr Leben im Untergrund vorwiegend mit Banküberfällen finanziert.
Das viele geraubte Geld verwaltete nach den Feststellungen der Bundesanwaltschaft die Rechtsextremistin Beate Zschäpe, die im Januar 1998 mit den beiden Neonazis untergetaucht war und fast vierzehn Jahre mit den beiden Männern zusammenlebte. Zschäpe soll aller Voraussicht nach Anfang nächsten Jahres vor dem Oberlandesgericht München angeklagt werden. Die Bundesanwaltschaft will sie wegen Beteiligung an zehn Morden der Zwickauer Terrorzelle, wegen versuchten Mordes in Zusammenhang mit einer Brandstiftung, wegen Mordversuchs im Zusammenhang mit zwei Sprengstoffanschlägen in Köln, wegen Bildung und Mitgliedschaft in der Terrorvereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und auch wegen der Raubserie anklagen.
Das geht aus dem Antrag der Bundesanwaltschaft an den 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) auf Fortsetzung der Untersuchungshaft Zschäpes hervor. Experten warten mit Spannung, wie der BGH auf diesen Antrag reagieren wird.
Für Zschäpe steht viel auf dem Spiel
Ein gewaltiger Prozess mit vielen hundert Bänden Spuren- und Sachakten steht zu erwarten. Für die in Köln-Ossendorf einsitzende Zschäpe steht viel auf dem Spiel. Sie hat mittlerweile drei Verteidiger. Das Team setzt sich aus den Anwälten Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl sowie der Anwältin Anja Sturm zusammen, die vor einigen Wochen dazugestoßen ist.
Auf Anfrage der SZ zu den neuen Vorwürfen der Bundesanwaltschaft rügen die drei Verteidiger in einer gemeinsamen Erklärung, dass ihnen nach Übersendung "von exorbitant umfangreichem Aktenmaterial eine Stellungnahmefrist von nicht einmal fünf Werktagen gesetzt" worden sei. Das sei nicht zu leisten. Da der Verteidigung Akteneinsicht angeblich "nur fragmentarisch und erheblich verzögert gewährt" werde, sei eine "substantiierte Auseinandersetzung mit den Tatvorwürfen" kaum möglich. Zschäpe selbst stünden wesentliche Akten nicht zur Verfügung.
Die harsche Reaktion auf den Antrag der Bundesanwaltschaft beim BGH kann auch ein Schock sein: Jetzt ist klar, dass die Bundesanwaltschaft in dem Prozess die Rechtsextremistin für alle Verbrechen der NSU mit verantwortlich machen will, obwohl sie vermutlich nicht geschossen hat und auch nicht anwesend war, als die zehn Mord- und die vierzehn Raubtaten verübt wurden. Alle in den vergangenen Monaten kolportierten Gerüchte, Zschäpe sei irgendwo irgendwie bei einem der Verbrechen mit dabei gewesen, haben sich nicht bestätigt.
Dass die Bundesanwaltschaft dennoch Zschäpe sogar wegen der Banküberfälle der beiden Männer anklagen will, ist in der Gedankenwelt von Terror-Ermittlern logisch. Danach dienen solche Banküberfälle unter anderem dem Zweck, die terroristische Vereinigung am Leben zu halten. Das Leben im Untergrund und die Mordserie der NSU wurden mit den Überfällen finanziert. Zschäpe verwaltete nicht nur das Geld, sie mietete Wohnmobile an, mit denen die Mörder zum Morden fuhren. Sie besorgte Pässe und lebte mit den bewaffneten Männern ein sehr konspiratives Leben. Sie war aus Sicht der Ermittler das Herz der Terrorfamilie.
Es gibt Parallelen in der blutigen Geschichte des Terrors: Die Rote Armee Fraktion (RAF) beispielsweise, die in fast drei Jahrzehnten mehr als 30 Menschen ermordet hat, finanzierte sich im Wesentlichen durch solche Überfälle. Im September 1970, wenige Monate nach der Deklarierung des bewaffneten Kampfes, überfielen die RAF und die anarchistische "Bewegung 2. Juni" innerhalb weniger Minuten drei verschiedene Bankfilialen in Berlin.
Kassenverwalterin der RAF war Gudrun Ensslin, die von den Bandenmitgliedern verlangte, dass diese bei ihr Listen mit den Ausgaben einreichten. Und Ulrike Meinhof, die Mitgründerin der RAF, konnte sich aufregen, wenn "Revolutionsgeld verschwendet" wurde. Angelehnt an die Logistik südamerikanischer Guerilleros galt für die rote RAF die Formel "MGWMS" - Motorisierung, Geld, Waffen, Munition, Sprengstoff. Um "MGWMS" ging es auch der braunen Zwickauer Terrorbande.
Die Beschaffungskriminalität ist aus Sicht der Ermittler systemimmanent
So unterschiedlich die Terrorvereinigungen in ihren jeweiligen Zielen auch gewesen sind - zumindest aus Sicht der Karlsruher Ermittler ist die Beschaffungskriminalität systemimmanent, und ein angebliches Gründungsmitglied, das die Vereinigung angeblich mit am Leben gehalten hat, muss sich vieles zurechnen lassen.
Unterschiede zur RAF gibt es dennoch, und diese Unterschiede machen den Zschäpe-Anwälten die Aufgabe nicht leichter. Alles in allem war die RAF ein vergleichsweise großer Trupp mit unterschiedlichen Kommandos. Die NSU hingegen ist nach den Feststellungen der Ermittler eine abgeschottete Gruppe gewesen, in der jeder für alles mitverantwortlich gewesen sein soll. Die Verdachtsmomente gegen die einzige Überlebende der NSU, gegen Zschäpe, wiegen deshalb besonders schwer.