Proteste im Gazastreifen:Auf der anderen Seite

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Auch diesen Freitag kam es wieder zu gewaltsamen Protesten an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen. Hier zielen junge Männer mit Steinschleudern auf israelische Soldaten. (Foto: dpa)
  • Seit vier Wochen stehen sich Israelis und Palästinenser am Grenzzaun in Gaza gegenüber.
  • Bisher sind laut palästinensischen Angaben 36 Menschen getötet worden - mindestens zwei Tote gab es an diesem Freitag.
  • Das Protestcamp bei Gaza-Stadt und der Kibbuz Nahal Oz sind voneinander nur 800 Meter entfernt.

Reportage von Alexandra Föderl-Schmid, Gaza/Nahal Oz

Dort die israelischen Soldaten, hier die Palästinenser: Jede Bewegung wird genau beobachtet, dies- und jenseits des drei Meter hohen Grenzzauns. Für die Erwachsenen ist es ernst, für die Kinder eine Art Spiel. Drei Jungen im Grundschulalter ziehen an einem Draht, es löst sich ein Geflecht. Wie eine Trophäe schleppen sie das zwei Meter lange Stacheldrahtgewirr zu einem Eselskarren, hängen es an und machen sich damit aus dem Staub Richtung Gaza-Stadt.

Die meisten Menschen bleiben lieber im Camp einige hundert Meter vom Grenzzaun entfernt - besonders an Freitagen. Es sind vor allem junge Männer, die mit zumeist vermummten Gesichtern mit Steinen und Molotowcocktails auf die Soldaten jenseits des Zauns zielen. Die schießen zurück: zuerst in die Luft, dann mit Gummigeschoßen, später mit scharfer Munition. Bisher sind laut palästinensischen Angaben 39 Menschen getötet worden - vier Tote gab es an diesem Freitag.

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Mehr als 950 Menschen wurden bei erneuten Freitagsprotesten an der Gaza-Grenze verletzt, einer von ihnen tödlich. Ehemalige israelische Scharfschützen äußern "Scham und Trauer" über Israels Vorgehen gegen Demonstranten.

Wie viele Tote, wie viele Verletzte es in diesem Camp gegeben hat, weiß Heitham Abu al-Ata nicht genau. "Zu viele." Der bullige Mann managt normalerweise ein Medienzentrum, seit einem Monat nun eines der fünf Protestcamps. Es wurde neben einer Baufirma auf einer freien Fläche im Wüstensand errichtet. Al-Ata sitzt in einem Container, ringsum sind acht riesige Zelte aufgestellt. Auf einem Megaplakat mitten im Camp prangen die Porträts von Nelson Mandela, Martin Luther King und Mahatma Gandhi. Daneben wurde ein improvisiertes Café aufgebaut: ein Dutzend Stühle im Sand, drei Sonnenschirme, der Strom für den Kühlschrank kommt aus dem Generator. Wären nicht immer wieder Schüsse zu hören, könnte man es für ein Volksfest halten.

"Wir demonstrieren friedlich", beteuert Mahmoud Othman. Der 31-Jährige ist mit seinen Freunden Raafat, Mohammed und Mahmoud seit vier Wochen fast jeden Tag hier. Sein Ziel: "Ich will raus hier, zurück nach Jaffa, wo meine Familie herkommt." Auch Essam Hammad versichert: "Das ist ein Protest normaler Bürger." Der Mittvierziger trägt einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine purpurfarbene Krawatte, um den Hals hat er ein Palästinensertuch. Er leitet die Niederlassung einer ausländischen Firma für Medizintechnik. Seit Januar ist er gemeinsam mit 13 anderen Palästinensern wie dem Menschenrechtsaktivisten Salah Abd al-Ati, der fast ununterbrochen telefoniert, mit der Organisation des "Marsches für die Rückkehr" beschäftigt. "Wir Palästinenser warten seit 70 Jahren darauf, dass unser Anliegen gelöst wird. Vor 25 Jahren gab es die Möglichkeit, einen palästinensischen Staat zu errichten. Das ist nicht geschehen. Deshalb müssen wir handeln."

Der Auslöser, sich jetzt zu engagieren, war für ihn die Ankündigung der USA, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die Botschaft dorthin zu verlegen. Aus Diskussionen im Freundeskreis sei nach 45 Tagen eine Organisation entstanden, bis zum 15. Mai sollen die Demonstrationen fortgesetzt werden. Dieser Tag markiert für die Palästinenser die Nakba, die Katastrophe. Im Zuge der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 mussten etwa 700 000 Palästinenser ihre Bleibe verlassen. Von den zwei Millionen Menschen im Gazastreifen sind 1,3 Millionen von den UN als Flüchtlinge anerkannt.

Hammad verweist auf die ökonomische Misere in dem von Israel abgeriegelten Küstenstreifen und auf die demografische Entwicklung, die den Gazastreifen zu einem der am dichtesten besiedelten Gebiete weltweit macht. "Die einzige Lösung ist die Rückkehr." Hammad beteuert, auch er wolle zurück ins Dorf seiner Vorfahren nach Sarafand, das in der Nähe von Haifa im Norden Israels liegt. "Ich verdiene fast so viel wie ein Minister. Was glauben Sie, was die wollen, die in Armut leben?"

Dass die im Gazastreifen regierende Hamas den Eindruck erwecke, das sei ihr Marsch, stört ihn nicht. Für ihn sind die Hamas-Aktivisten "Freiheitskämpfer". Wenn es keine Besatzung mehr gebe, dann gebe es sie nicht mehr, das habe man auch bei der IRA in Irland gesehen, meint Hammad, der in diesem Land studiert hat. "Als Freiheitskämpfer und Bürger haben sie das Recht, an diesem Marsch teilzunehmen." Auch Camp-Manager al-Ata versichert: "Die politischen Parteien, ob Hamas oder Islamischer Dschihad, haben keinen Einfluss auf das, was hier passiert. Sie dürfen auch keine Waffen mit ins Camp nehmen. Wenn sie demonstrieren, dann für Palästina, nicht für ihre Partei."

Auch an diesem Freitag steigen wieder Drachen in die Höhe. Nach Angaben des israelischen Militärs sind einige mit Sprengstoff versehen, es werde auch versucht, explosives Material an den Grenzanlagen anzubringen. Vergangenen Sonntag wurde die Entdeckung eines Tunnels bekannt gegeben, der aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet bei Nahal Oz führte.

Der Kibbuz ist nur 800 Meter von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Der Ort ist eine blühende Oase mit üppigen Pflanzen zwischen den Bungalowhäusern, knapp vierhundert Menschen leben hier. Das schwere Tor bei der Einfahrt öffnet sich automatisch, wenn man sich nähert, die beiden Pförtnerhäuschen sind verwaist. Die meisten Menschen auf der Straße haben ein Werkzeug in der Hand, sie sind auf dem Weg zu den Feldern. Der Kibbuz und seine Bewohner leben von der Landwirtschaft, es gibt auch Rinder und Hühner. Demnächst will man sogar Avocados und Bananen anbauen.

Natürlich sei man besorgt über die Lage im Gazastreifen, sagt Sefi Magen, der die Finanzen des Kibbuz managt. "Aber wir leben nicht in ständiger Angst und denken uns: Was wird passieren? Was ist, wenn Terroristen in einem Tunnel zu uns kommen." Er denkt länger nach und sucht nach einem Vergleich: "Wenn man Auto fährt, dann denkt man auch nicht die ganze Zeit daran, was passieren kann."

Seine Frau ist hier aufgewachsen, ihre Eltern gehörten zu den Pionieren des 1951 gegründeten Kibbuz, seine Schwägerin ist die Sprecherin der Gemeinschaft. Viele Freunde hätten ihn für verrückt erklärt, als er und seine Frau mit den vier Kindern aus dem israelischen Zentralraum kommend im August 2015 hierher zog. "Aber wir sind keine verrückten Leute. Es war auch keine politische Entscheidung wie eine, die die Siedler treffen. Ich wollte einfach für meine Familie den besten Platz zum Leben." An der Grenze könne es immer wieder Vorfälle geben. "Aber normalerweise ist es ein ruhiger Platz und ein sehr schöner."

Die Schutzmaßnahmen wurden nicht verstärkt. Nahal Oz gehört zu den drei Kibbuzim, in denen wegen der Grenznähe einige Soldaten stationiert sind. Im Ortszentrum neben der Bushaltestelle gibt es zwei Schutzbunker. Seit seiner Ankunft habe es sechsmal Alarm gegeben. "Nur einmal in den vergangenen drei Jahren ist eine Rakete auf einem Haus gelandet. Nichts ist passiert. Das war's." Aber eigentlich möchte er gar nicht darüber reden, lieber davon, dass der Kibbuz ein blühender Ort sei, mehr Menschen sollen hierherziehen: "Und deshalb schadet negative Publicity." Die meisten hier sähen das Leid der Menschen im Gazastreifen. "Wir hoffen, dass es einmal eine Lösung gibt. Für alle."

© SZ vom 21.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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