Ungarn:Aus Obdachlosen werden Kriminelle gemacht

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Bloß nicht erwischen lassen: Wer wie Zsolt Kurtai auf der Straße lebt, muss in Ungarn im schlimmsten Fall mit einer Gefängnisstrafe rechnen. (Foto: Attlia Balazs/dpa)

Fortan ist es in Ungarn per Gesetz verboten, auf der Straße zu leben. Die Regierung behauptet, sie wolle den Menschen helfen. Und was sagen die Betroffenen?

Reportage von Peter Münch, Budapest

Im Schatten eines Baums hat er sich niedergelassen, die Schuhe stehen neben ihm, in der Hand hält er ein Buch - er könnte ein Mann in der Mittagspause sein, wenn nicht das hingeworfene Bündel mit den paar Habseligkeiten ihn verraten würde. Károly Domboróczky ist obdachlos. In dem kleinen Park am Budapester Donauufer sucht er keine Erholung, sondern Unterschlupf. "Seit Beginn des Sommers lebe ich auf der Straße", sagt er mit heiserer Stimme, "da habe ich meine Wohnung in Vác verloren und mir gedacht, dass es in Budapest einfacher ist zu überleben." Doch einfach ist es für einen Obdachlosen nirgends mehr in Ungarn. Károly Domboróczky muss auf der Hut sein, wo immer er auch ist.

Denn seit Beginn dieser Woche gilt ein bereits im Juni im Parlament beschlossenes neues Gesetz, mit dem das Leben auf der Straße generell verboten wird. Wer dreimal von der Polizei aufgegriffen und verwarnt wird, dem droht beim vierten Mal eine Gefängnisstrafe oder die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit. Schon 2013 hatte die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán im Zuge ihrer zackigen Recht- und-Ordnung-Politik ein Aufenthaltsverbot für Obdachlose an bestimmten öffentlichen Plätzen verhängt. Die Sperrzonen lagen vor allem da, wo sich die Touristen tummeln. Doch nun ist das ganze Land zur Sperrzone erklärt worden. Wer keine Unterkunft hat, wird kriminalisiert. "Ein großer Schwachsinn ist das", schimpft Károly Domboróczky.

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Heftige Kritik kommt von vielen Seiten. Miklós Beer, katholischer Bischof in der 35 Kilometer von Budapest entfernt liegenden Kleinstadt Vác, hält das Gesetz für "gefährlich". Man könne das Problem der Armut nicht mit Verordnungen lösen. Leilani Farha, die UN-Sonderberichterstatterin für Wohnungsfragen, nennt es in einem offenen Brief "grausam und unvereinbar mit den internationalen Menschenrechten". Und auch im Bericht der niederländischen EU-Abgeordneten Judith Sargentini, auf dessen Grundlage das EU-Parlament im September mit Zweidrittelmehrheit ein Sanktionsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 eingeleitet hat, wird der Umgang mit der Obdachlosigkeit als Beispiel dafür aufgeführt, wie dort der Rechtsstaat unter die Räder kommt.

Ungarns Regierung jedoch zeigt sich unbeeindruckt und greift durch. Auf dem Platz vor dem Westbahnhof, der früher einer der Treffpunkte war, ist kein Obdachloser mehr zu sehen. Auch nicht in den Unterführungen und U-Bahnstationen. Dafür zeigt dort jetzt die Polizei Präsenz. Doch in den Nebenstraßen sieht man dann die ärmlichen Gestalten, die in ausrangierten Einkaufswagen die Pappunterlagen fürs Nachtlager vor sich herschieben. Viele weichen an den Stadtrand aus, in der Hoffnung, dort unter dem Radar zu bleiben. Doch in Gödöllő, einer Budapester Vorstadt, wurde bereits ein Obdachloser, der auf einer Parkbank angetroffen wurde, festgenommen. Nach einer Nacht auf der Wache führte man ihn in Handschellen im Gericht vor. Dort beließ es der Richter aber zunächst bei einer Verwarnung.

20 000 Menschen haben kein festes Zuhause, aber es gibt nur 11 000 Plätze in Unterkünften

Solchen Vorfällen zum Trotz behauptet die Regierung, sie wolle die Obdachlosen nicht bestrafen, sondern ihnen helfen. Verwiesen wird auf 28 Millionen Euro, die dafür bereitgestellt worden seien. Doch wenn Zoltán Aknai das hört, dann lacht er nur bitter auf, weil für ihn diese Summe nicht mehr sein kann als ein kleines Pflaster für eine große Wunde. In seinem Büro hängt ein Transparent, auf dem in großen Lettern steht: "Jeder soll ein Zuhause haben". Doch für schätzungsweise 20 000 Menschen in Ungarn gilt das nicht.

Als Direktor einer NGO namens Menhely Alapítvány, was auf Deutsch ungefähr Schutzraum-Stiftung bedeutet, kümmert Aknai sich in Budapest um die Obdachlosen. "Es spricht nichts dagegen, sie von der Straße wegzubringen in ein Heim", sagt er, "aber doch nicht ins Gefängnis." Das Problem allerdings sei, dass es bei Weitem nicht genug Plätze gebe. Wenn er alles zusammenzählt, kommt er im ganzen Land auf ungefähr 11 000 Betten. "Das ist zu wenig", sagt er, "und vor allem ist das System nicht für jeden zugänglich." Wer zum Beispiel Drogen- oder psychische Probleme habe, finde dort keine Hilfe.

Auch Károly Doboróczky, der im Park unter dem Baum sitzt, hat sich bereits erkundigt, ob irgendwo in einem Heim ein Platz zu haben ist. Gute Erfahrung hat er allerdings nicht gemacht in solchen Einrichtungen. "Da passiert es, dass die Schuhe weg sind, wenn du morgens aufwachst", sagt er. "Da gehe ich nur hin, wenn ich wirklich muss." Noch aber klammert er sich an die Hoffnung, dass sich nach einer ersten Demonstration des Durchgreifens die ganze Aufregung in ein paar Tagen wieder legen könnte. Bis dahin will er sich möglichst unsichtbar machen.

Zum Zeitvertreib nimmt er wieder sein Buch zur Hand. Es ist eine Sammlung von Kurzgeschichten internationaler Autoren von Bertolt Brecht über Eugène Ionesco bis zu Tennessee Williams. Der Titel lautet: "Das Ende des Spiels".

© SZ vom 19.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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