UN-Erklärung der Menschenrechte:Die Würde des Einzelnen

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Am 10. Dezember 1948 nahmen die Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. (Foto: AFP)

Individuum gegen Gemeinschaft: Der UN-Erklärung von 1948 liegt ein in Europa und Amerika geprägtes Menschenbild zu Grunde - das passt nicht jedem.

Von Tobias Zick, München

Es passiert nicht allzu oft, dass Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi sich öffentlich zum Thema Menschenrechte äußert. Vor gut einem Monat tat er es: Bei einer Konferenz des "Netzwerks der Afrikanischen Nationalen Menschenrechtsinstitutionen" in Kairo ließ er verlauten, sein Konzept von Menschenrechten sei nicht auf politische Aspekte beschränkt. Ebenso wichtig seien Wirtschaft, Soziales, Gesundheit und Bildung. Und überhaupt müsse man darauf achten, dass Menschenrechte in Afrika "vereinbar mit dem Entwicklungsprozess" seien.

Es ist nicht das erste Mal, dass in Kairo die Frage, was Menschenrechte sind, auf eigene Weise definiert wird. Am 5. August 1990 hatten 45 muslimisch geprägte Staaten in Ägyptens Hauptstadt ihre "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam" verabschiedet. In Teilen ähnelt sie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen hatte. In anderen Teilen aber widerspricht sie dieser fundamental. Artikel 1 der Kairoer Erklärung lautet zum Beispiel: "Alle Menschen bilden eine Familie, deren Mitglieder durch die Unterwerfung unter Gott vereint sind und alle von Adam abstammen." Weiter heißt es: "Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung, soweit er damit nicht die Grundsätze der Scharia verletzt." Und am Schluss steht noch einmal ganz kategorisch: "Alle in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freiheiten sind der islamischen Scharia nachgeordnet."

In Asien wird die Gemeinschaft vielfach als wichtiger angesehen als der Einzelne

Die Kairoer Erklärung steht in einer Reihe von Gegenentwürfen zur UN-Erklärung von 1948. Ende 2012 etwa hat die Südostasiatische Staatengemeinschaft ihre Asean Human Rights Declaration verabschiedet, die an wesentlichen Stellen Schlupflöcher lässt; so ist darin weder von Versammlungsfreiheit die Rede noch von einem Schutz vor willkürlicher Verhaftung. Auch ist darin alles dem jeweiligen nationalen Recht nachgeordnet - ein diametraler Widerspruch zum Artikel 1 der UN-Erklärung, der da lautet: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Das entscheidende Wort darin ist nämlich gleich das erste: "alle". Die in den folgenden Artikeln aufgeführten Rechte, also das Recht auf Leben und Freiheit, das Verbot der Folter, der Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: All das soll, so hatten es 1948 die Vertreter der UN-Staaten unter dem frischen Eindruck zweier Weltkriege beschlossen, für jeden Menschen auf diesem Planeten gelten, unabhängig davon, unter welcher Regierung dieser Mensch lebt und wie diese beispielsweise die Scharia auslegt. Dahinter steht die Frage: Was sind individuelle Rechte wert, wenn sie nur für Auserwählte gelten oder wenn sie unter Vorbehalt eines Regierungs- oder Systemwechsels stehen?

Die Vertreter jener Staaten, die der UN-Erklärung ihre eigene Interpretation von Menschenrechten entgegensetzen, argumentieren meist damit, jene "Allgemeine Erklärung" mit ihrem Fokus auf die Rechte des Individuums sei einseitig von einem christlich-abendländischen Menschenbild geprägt und verkörpere damit ein Dokument des westlichen Kulturimperialismus.

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Asiatische Staaten etwa stellen dem "asiatische Werte" gegenüber - wobei das Kollektiv, die Gemeinschaft, dem Individuum übergeordnet sei. Zudem müsse festgehalten werden, dass der Einzelne nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat habe. Und aus islamisch geprägten Staaten, wo der Mensch eher als Geschöpf Gottes betrachtet wird denn als selbstbestimmtes Individuum, kommt oft der Einwand, die UN-Erklärung sei nicht vereinbar mit dem Koran. Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1984 erklärte der Vertreter Irans, Said Rajaie-Khorassani, diese sei das Ergebnis einer "säkularen Auslegung der jüdisch-christlichen Tradition" und könne von Muslimen nicht umgesetzt werden, ohne gegen islamisches Recht zu verstoßen.

In der Tat ist die UN-Menschenrechtserklärung ein Produkt der westlichen Aufklärung. Das Individuum, das sich seines Verstandes bedient und die Macht weltlicher und religiöser Obrigkeiten ständig infrage stellt, steht darin im Mittelpunkt: Es ist ein vergleichsweise junges, in Europa und Amerika geprägtes Menschenbild, darauf basieren die Virginia Declaration of Rights von 1776 und die französische Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen aus dem Revolutionsjahr 1789.

Die zentralen Streitpunkte blitzen in Debatten bei den UN immer wieder auf

Es waren denn auch keine einfachen Verhandlungen, die schließlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hervorbrachten. Die zentralen Streitpunkte von damals blitzen bis heute immer wieder in internationalen Konflikten auf: Der britische Vertreter bei den UN etwa sagte einst: "Wir wünschen freie Menschen, nicht wohlgenährte Sklaven". Sein ukrainischer Kollege erwiderte: "Freie Menschen können verhungern."

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi lässt sich freilich keiner der beiden Denkschulen eindeutig zuordnen. Die Proteste, die er immer wieder brutal niederschlagen lässt, richten sich gegen beides: die immer weiter wachsende Armut im Land - und die umfassende Unterdrückung freier Meinungsäußerung.

© SZ vom 10.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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