Die Segnungen eines Rechtsstaates weiß man vor allem dann zu schätzen, wenn sie einem plötzlich vorenthalten werden: Wenn man also verhaftet wird wie der deutsche Amnesty-Mitarbeiter Peter Steudtner in der Türkei, wenn man in denunziatorischer Weise in U-Bahnhöfen plakatiert wird wie der amerikanische Multimilliardär George Soros in Ungarn, oder wenn man seinen Job als Präsidentin des Obersten Gerichtshofs verliert, wie es der polnischen Richterin Małgorzata Gersdorf nun widerfahren könnte.
Der schleichende Verfall von Rechtsstaatlichkeit, die Aushöhlung der rechtssprechenden Gewalt, ist eine der großen Seuchen dieser Zeit. Die Zersetzung der Justiz bedroht die Demokratie auf viel nachhaltigere Art, als es ein populistischer Großredner vermag.
Präsident Donald Trump ist ja noch ein Dilettant in der Manipulation der Gewalten, sein Umgang mit dem FBI und dem Justizministerium gefährdet aber bereits die Freiheit der Ermittler. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat hingegen die unabhängige Justiz in Windeseile beseitigt.
Besonders finstere Züge zeigt die Entkernung der Justiz in Polen. Der Prozess der Zentralisierung und Politisierung des Rechtsapparats dauert nun schon seit Dezember 2015 an und nähert sich einem vorläufigen Höhepunkt, wenn das Parlament über Entlassung und Neubesetzung der Richter am Obersten Gerichtshof entscheidet.
Die dritte Säule der Justiz gebrochen
Nach den brachialen Eingriffen beim Verfassungsgericht und der Auflösung des unabhängigen Landesrichterrates wäre damit die dritte Säule der Justiz gebrochen. Mit einer zusätzlich installierten Disziplinarkammer hätte das Justizministerium Zugriff auf alle aufmüpfigen Richter im Land, die den Barrikadensturm überlebt haben sollten.
Die regierende PiS-Partei rechtfertigt ihre Justizreform mit dem Verweis auf die politische Praxis in anderen Ländern. Ja, auch in Deutschland entscheidet ein Richterwahlausschuss aus Abgeordneten über die Besetzung höchster Richterstellen.
Polen:Brüssel fordert von Warschau Aussetzung von Justizreform
Das umstrittene Gesetzesvorhaben ruft internationale Kritik hervor. Polens Präsident Andrzej Duda droht mit seinem Veto - Kritiker halten diesen Schritt für ein Scheinmanöver.
Die Supreme-Court-Richter in den USA sind selbstverständlich vom Präsidenten vorgeschlagen und mit politischer Mehrheit gewählt. Aber: Das neue polnische System spottet jedem Vergleich Hohn.
Es ist radikaler, allumfassender, zentralistischer und politischer als jedes vergleichbare Besetzungssystem. Weder werden regionale Befindlichkeiten berücksichtigt, noch werden Befähigungen etwa in Ausschüssen geprüft, und vor allem fehlt die berufsständische Beteiligung bei der Personalauswahl.
In Polen wird es künftig sehr einfach sein: Wer Richter wird, entscheidet die Partei. Das System spiegelt damit das Rechtsverständnis des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński wider: Die politische Mehrheit steht über der Justiz.
Dieser eklatante Bruch mit den Prinzipien der Gewaltenteilung stellt die politische Ordnung der Dritten Polnischen Republik zur Disposition. Die Unterstellung der Rechtssprechung und der Strafverfolgung unter die Person des Justizministers ermöglicht jede denkbare Form des Missbrauchs - von den einfachsten Streitfällen zwischen (politisch anders denkenden) Nachbarn bis hin zur Wahlmanipulation.
Nicht zuletzt verstößt das System gegen den von Polen unterzeichneten Beitrittsvertrag zur Europäischen Union, zu dem die Rechtsstaatlichkeit gehört.
Vergleichbare Rechtssysteme sind eine Grundvoraussetzung der EU. Sie gehören zur Gemeinschaft wie Blutbahnen zum Körper. Europas Staaten haben sich als Rechtsgemeinschaft zusammengeschlossen - nur der Respekt vor dem gemeinsam kodifizierten Recht hält die EU zusammen, nicht Panzer oder Euro.
Natürlich werden die Polen die Erosion ihres Rechtssystems zunächst am Geldbeutel spüren. Wer keine Rechtssicherheit hat, investiert nicht. Wer politischer Willkür ausgesetzt ist, hält lieber Abstand. Chinesen und Türken spüren bereits die Angst der Investoren, zu deren Geschäftsmodellen Willkür eben nicht gehört.
Die PiS-Regierung sollte den geballten politischen Widerstand spüren
Darauf allein aber kann die EU nicht vertrauen. Die polnische Regierung hält trotz mehrmaliger Warnungen, trotz eines Rechtsstaatsverfahrens und trotz eindeutiger Urteile der in Rechtsfragen unabhängigen und glaubwürdigen Venedig-Kommission ihren Kurs.
Sollte sie bis zum Ende der Woche ihre Rechts-Revolution zu Ende bringen, dann müssen die EU-Mitglieder reagieren - und zwar ohne Rücksicht auf mögliche Zusatzkomplikationen. Natürlich wird Ungarn keine Isolation Polens mittragen, natürlich ist deutsche Kritik in Warschau eher kontraproduktiv und stärkt das PiS-Lager.
Das alles wiegt aber lange nicht so schwer wie der Schaden, den die polnische Regierung der EU gerade zufügt. Sie sollte dafür den geballten politischen Widerstand spüren.