Krieg in der Ukraine:Die Pflicht ruft

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Ein ukrainischer Artillerist. Viele Soldaten in der ukrainischen Armee sind älter als 40 Jahre. Das liegt auch an den geltenden Gesetzen. (Foto: Friedrich Bungert)

Die ukrainische Armee hat Probleme bei der Einberufung neuer Soldaten. Gesetzesänderungen könnten helfen. Aber vor allem der Präsident zögert bei den Reformen.

Von Florian Hassel, Pokrowsk/Belgrad

Es war der 30. August 2023, als Präsident Wolodimir Selenskij die Ergebnisse einer Überprüfung der 24 Wehrämter in der Ukraine bekannt gab. Die Korruption war so durchdringend, dass Selenskij die Leiter aller 24 Ämter feuerte und eine Neuaufstellung befahl.

Doch die Folgen waren anders als erhofft. Die ohnehin schwierigen Einberufungen im zweiten Kriegsjahr gingen stark zurück. "Man kann auch sagen, dass die Mobilisierung zusammengebrochen ist", sagte der langjährige Offizier Roman Kostenko, Sekretär des Verteidigungsausschusses des ukrainischen Parlaments, im Infodienst NV. Auch General Walerij Saluschnyj, Oberkommandeur der Streitkräfte, gab am 18. Dezember zu, dass die Mobilisierung stocke. Saluschnyj rief auf, die Mobilisierung nicht nur zu verstärken, sondern in den Wehrämtern zum vorherigen funktionierenden Vorgehen zurückzukehren.

Die Ukraine hat eine Million Soldaten - zumindest auf dem Papier

Fehlende Soldaten sind neben dem immer bedrohlicheren Mangel an Artilleriegranaten und Militärtechnik auch Frontkommandeuren zufolge das größte Problem der Ukraine. Verteidigungsminister Rustem Umjerow zufolge hat die Ukraine eine Million Mann unter Waffen, davon 800 000 in den Streitkräften - jedenfalls auf dem Papier. In der Realität bleiben viele Posten unbesetzt, müssen Soldaten teils seit Beginn des russischen Überfalls an der Front bleiben.

Um die Lücken zu stopfen, mehr als 150 000 gefallene und verwundete Soldaten zu ersetzen und Langzeitkämpfern endlich Erholung vom Kampf zu ermöglichen, beantragten Saluschnyj und der Generalstab beim Präsidenten - offenbar bei einer Sitzung am 24. November -, 2024 gleich 450 000 bis 500 000 Mann neu einzuziehen. Dies freilich sei eine gewaltige Zahl, so Selenskij am Dienstag bei seiner Jahrespressekonferenz. "Ich habe gesagt, dass ich mehr Argumente brauche, um diese Richtung zu unterstützen."

Wer sich freiwillig melden will, habe das in der Regel längst getan

Doch nicht nur Militärs, auch Parlamentarier und Analysten fordern massenhafte Mobilisierung. "Wir brauchen 300 000" Mann, sagte etwa der Ex-Militär Pawlo Lakijtschuk. Das Verteidigungsministerium schloss kürzlich einen Vertrag mit einer Personalagentur, um mehr Freiwillige für die Streitkräfte anzuwerben, doch niemand erwartet, dass dies die Probleme löst. Wer sich freiwillig melden wollte, habe dies in der Regel schon im ersten halben Jahr des Krieges getan, sagte Kyrylo Budanow, Chef des Militärgeheimdienstes HUR, am 17. Dezember. Jetzt könne "ausschließlich Mobilisierung" den Nachschub für die Streitkräfte sichern.

Budanow sprach unbequeme Wahrheiten aus: Dass "die Mehrheit der Leute" sich zwar rhetorisch als ukrainische Patrioten ausgäben, aber tatsächlich nicht bereit seien, für ihr Land zu kämpfen. Für Aufsehen sorgten in der Ukraine Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat, denen zufolge sich 650 000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren in der EU sowie der Schweiz, Liechtenstein und Norwegen aufhielten.

Tausende ukrainische Männer versuchen weiterhin, ihr Land zu verlassen

Die Welt am Sonntag zitierte im November Zahlen des Bundesinnenministeriums, denen zufolge seit der Invasion 221 571 ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren nach Deutschland gekommen seien. Knapp 190 000 seien noch im Ausländerzentralregister verzeichnet, zu ihnen kämen schätzungsweise weitere 100 000 nicht gemeldete Ukrainer. Tausende ukrainische Männer versuchen weiterhin, das Land angesichts drohender Einberufung illegal zu verlassen. Wege führen etwa über die grüne Grenze nach Polen oder Rumänien.

Ende November traf die Süddeutsche Zeitung bei Frontbesuchen in der Ukraine etliche Soldaten, die das Alter von 40 Jahren weit überschritten hatten. Am 28. November etwa sprach die SZ mit drei Soldaten, die nach monatelangem Dienst im heftig umkämpften Awdijiwka verletzt in Sicherheit gebracht wurden: Der Soldat Dima war 32 Jahre alt, sein Kamerad Wiktor 47 Jahre, der neben ihnen sitzende Serhij gar 55 Jahre - keine Ausnahme, sondern die Regel in der ukrainischen Armee. Ben Wallace, bis Ende August Englands Verteidigungsminister und enger Partner Kiews, bestätigte vor Kurzem im britischen Telegraph, ukrainische Soldaten seien im Durchschnitt mehr als 40 Jahre alt.

Wer Anfang 20 ist, kann nicht einberufen werden

Grund dafür sind auch die ukrainischen Gesetze. Zwischen 20 und 27 Jahren können Ukrainer zwar zum Grundwehrdienst von bis zu 18 Monaten eingezogen werden, nicht aber zum sofortigen Einsatz an der Front - es sei denn, sie melden sich freiwillig. Die Folge sei ein "ukrainischer Nonsens", so Ex-Militär Lakijtschuk: Wer Anfang 20 ist und in der Blüte seiner Kräfte stehe, könne in der Regel nicht eingezogen werden. Erst ab einem Alter von 27 Jahren gälten keine Unterscheidungen mehr, sei jeder Mann kriegsdienstpflichtig, gleich ob er Wehrdienst geleistet habe oder nicht.

Das ukrainische Militär schätzte, allein durch die Absenkung der Altersgrenze für uneingeschränkte Kriegsdienstpflicht von 27 auf 25 Jahre könnten 140 000 Ukrainer zusätzlich mobilisiert werden. Schon am 30. Mai stimmte das Parlament einem entsprechenden Gesetz zu - doch Präsident Selenskij hat es bis heute nicht unterschrieben. Englands Ex-Verteidigungsminister Wallace kommentierte, er verstehe den Wunsch Selenskijs, "die Jungen für die Zukunft zu bewahren", doch sei diese Position angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit Russlands nicht durchzuhalten.

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Das ukrainische Parlament bereitet ein Gesetz vor, das dem Fraktionschef der Präsidentenpartei Diener des Volkes zufolge womöglich noch vor Jahresende zur Abstimmung kommen könne. Im Fall der Annahme würden die Rahmenbedingungen für Einberufungen deutlich verschärft: Zehntausende Ukrainer, die sich der Einberufung durch ein Zweit- oder Drittstudium zu entziehen suchen, könnten dann mobilisiert werden. Alle wehrpflichtigen Männer müssten binnen Wochenfrist Mobiltelefonnummern und E-Mail-Adressen angeben; Einberufungsbefehle könnten dann auch elektronisch juristisch gültig zugestellt werden. Polizei und Wehrämter dürften Männer überall auf ihren Wehrstatus überprüfen.

Noch aber ist zweifelhaft, ob Selenskij, dessen Popularität sinkt, zum unpopulären Durchgreifen bei Mobilisierungen bereit ist. Fedir Wenislawskyj, sein Vertreter im Parlament, verlor vor wenigen Tagen seinen Posten, nachdem er für Selenskijs Geschmack offenbar zu offen über die kommenden Pläne geplaudert hatte. Auch die Forderung der Generäle nach bis zu einer halben Million Einberufungen lehnte Selenskij erst einmal ab: Erst wolle er einen "konkreten Plan" über Einberufungen, Rotationen, Urlaube und Entlassungen lang dienender Soldaten sehen. Mit derlei Vorbehalten weigert sich Selenskij ukrainischen Medien zufolge seit Mai, auch nur das uneingeschränkte Einberufungsalter um zwei Jahre abzusenken. Parlamentarier Kostenko dagegen forderte, unpopuläre Mobilisierungsverschärfungen sofort zu beschließen, denn "morgen kann es schon zu spät sein".

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