Ukraine:Das Parlament im Schatten

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Seltene Erscheinung: Präsident Selenskij bei einer Rede im Parlament am 28. Dezember 2022. (Foto: STR/AFP)

Auch im Krieg arbeitet die ukrainische Rada weiter - allerdings weitgehend geheim. Zu debattieren gibt es ohnehin wenig.

Von Florian Hassel, Kiew

Julija Klymenko erinnert sich gut, wann sie Präsident Wolodimir Selenskij das letzte Mal getroffen hat: zwei Tage vor dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. "Der Präsident lud an diesem 22. Februar 2022 die Fraktionsführer des Parlaments ein, um sie über die jüngsten Geheimdiensterkenntnisse und den mutmaßlich bevorstehenden Angriff auf die Ukraine zu informieren", sagt Klymenko, Vize-Chefin der liberalen Holos-Fraktion in der Rada, dem ukrainischen Parlament. Man trifft sie an einem Frühherbstmorgen in einem Café auf Kiews Prachtstraße Chreschtschatyk.

Seit Kriegsbeginn hat die Abgeordnete den Präsidenten nur noch bei offiziellen Anlässen im Parlament gesehen, etwa als er dort am 28. Juni 2023 zum Verfassungstag sprach. "Es sollte anders sein. Selenskij ist kein König, er sollte regelmäßig mit allen Parteien im Parlament sprechen", sagt die Abgeordnete.

Die Rada hat im Krieg weitergearbeitet, russischen Angriffen mit Raketen und Drohnen auf Kiew zum Trotz. "Wir halten unsere Ausschusssitzungen ab, die Fraktionsführer besprechen sich mit dem Parlamentspräsidenten, alle zwei Wochen treffen wir uns für die Abstimmungen im Großen Saal des Parlaments", beschreibt Klymenko. "2022 haben wir fast nur mit dem Krieg verbundene Gesetze beschlossen; in diesem Jahr auch andere Gesetze, etwa solche, die von der EU vor Eröffnung von Beitrittsverhandlungen verlangt werden."

"Abstimmungsmaschine mit Knöpfen"

Traditionell verfügte kein ukrainischer Präsident über eine eigene Mehrheit, sondern musste sich die Unterstützung für die Gesetze seiner Regierung unter den oft scharf konkurrierenden Parlamentsparteien zusammensuchen. Doch seit Wolodimir Selenskij 2019 Präsident wurde und auch das Parlament neu wählen ließ, hat er mit seiner Partei "Diener des Volkes" die Rada mit absoluter Mehrheit dominiert, auch mithilfe des von seiner Partei gestellten Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk. Die Dominanz des Präsidenten verstärkte sich seit Beginn des russischen Überfalls noch, und was im Parlament beschlossen wird, erfährt die Öffentlichkeit oft erst hinterher.

Denn Parlamentssitzungen werden zuvor nicht bekannt gegeben und auch nicht wie früher live im Parlamentsfernsehen übertragen. "Es wird auch kaum debattiert, sondern meist direkt abgestimmt", sagt der zur Oppositionspartei Europäische Solidarität gehörende Abgeordnete Wolodymyr Arjew. "Wir haben eigentlich kein Parlament mehr, sondern nur noch eine Abstimmungsmaschine mit Knöpfen."

Andrij Schupanyn nimmt in einem Café in der Nähe des Parlaments eine schnelle Suppe zu sich, bevor er zu einer Sitzung des Energieausschusses muss, zu der sich Kollegen des Europäischen Parlaments online zuschalten wollen. Schupanyn gehört zur Präsidentenpartei und hält sich mit Kritik zurück. Doch er macht sich keine Illusionen über seine Arbeit. "Die Gesetze, die wir heute verabschieden, sind nicht für die Zukunft gedacht, sondern für den Krieg. Es geht in der Regel um Wehrdienst, Befreiungsregeln oder die Finanzen der Armee - nicht um Visionäres."

Vorteilsnahme und Bereicherung

Den Mangel an Debatten sieht Schupanyn angesichts des weitergehenden Krieges nicht als Problem. "Wir können diskutieren, aber in Grenzen. Der Präsident und Oberkommandierende führt das Land - und wir müssen für das stimmen, was der Präsident will." Diese Grundzustimmung für Selenskij hat Schupanyn nicht gehindert, mutmaßlich korrupte Manipulationen mit ukrainischem Geld für Strom aus Solaranlagen auf russisch kontrolliertem Gebiet aufzudecken, die Journalisten zu einem Vizechef der Präsidialverwaltung zurückverfolgten. Und er, Schupanyn, habe "danach keine Unannehmlichkeiten" gehabt, sprich: keinen Druck durch den Präsidialapparat oder diesem unterstehende Justiz- oder Ermittlungsbehörden.

Auch das Parlament selbst wurde trotz des Krieges von etlichen Skandalen erschüttert, sei es um den sich ein halbes Jahr nicht in der Ukraine, sondern auf Zypern aufhaltenden Diener-des-Volkes-Abgeordneten Andrij Cholodow, um seinen sich auf den Malediven erholenden Fraktionskollegen Jurij Aristow oder um den der Erpressung verdächtigten Oppositionsparlamentarier Serhij Aljeksjejew.

Persönliche Vorteilsnahme oder Bereicherung fiel einigen Parlamentariern im Krieg umso leichter, als nach dem russischen Überfall etliche staatliche Register - von der öffentlichen Auftragsvergabe bis zum Vermögensregister für alle hohen Staatsdiener und Politiker - geschlossen wurden. Lange kämpften Bürgerrechtler wie Darja Kalenjuk vom Anti-Korruptions-Zentrum Antac für ein Gesetz zur Wiedereröffnung vor allem des Vermögensverzeichnisses.

Das Regierungsviertel ist abgesperrt

Ein entsprechender Gesetzentwurf fiel Anfang September erst einmal durch. Auch von den Dienern des Volkes stimmten etliche statt für das ursprüngliche für ein stark verwässertes Gesetz. Erst nach starkem gesellschaftlichen Druck legte Präsident Selenskij sein Veto gegen das von seinen eigenen Leuten verabschiedete Gesetz ein. "Selenskij hatte keine Wahl", sagt Kalenjuk. "Fast 84 000 Ukrainer unterzeichneten eine Protestpetition, unter ihnen prominente Kriegshelden." Auch westliche Diplomaten machten hinter den Kulissen Druck - am 20. September wurde die Pflicht zur sofortigen Wiedereinführung der öffentlichen Vermögenserklärung schließlich vom Parlament beschlossen.

Der Skandal um die Ablehnung der Vermögenserklärungen war einer der wenigen Fälle, in denen die Arbeit des Parlaments unter die Lupe genommen wurde. Anders als früher arbeitet das Parlament unter fast vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit. Bis zur Invasion gehörte die Rada zu den offensten Institutionen der Ukraine; Journalisten und Beobachter konnten sich im Parlament weitgehend frei bewegen und Abgeordnete auf den Fluren oder in der Cafeteria abfangen.

Seit der Invasion ist das Regierungsviertel einschließlich des Parlaments von Polizei und Nationalgarde abgesperrt. Nur Mitarbeiter von Präsidialamt, Regierung und Parlament und registrierte Einwohner werden ohne weiteren Passierschein durch die Kontrollen gelassen. Weder Beobachter noch Journalisten haben Zugang zur Rada, Ausschusssitzungen und Abstimmungen finden geheim statt.

"Keine Proteste, keine Fragen"

"Am Anfang des Krieges hatte dieses Regierungs- und Parlamentsghetto Sinn - jetzt nicht mehr", sagt der Parlamentarier Wolodymyr Arjew. "Kiew ist heute durch die Luftabwehr gut geschützt, auch im Parlament haben wir Schutzräume und Vorwarnzeiten." Die Parlamentarier sind im Kriegsrecht machtlos, diesen Zustand zu beenden. Darüber entscheidet der dem Präsidenten unterstehende Staatliche Wachdienst. So gebe es "keine Proteste vor Präsidentenpalast oder Parlament, keine Journalisten und keine unbequemen Fragen", sagt Arjew.

Eigentlich müsste die Ukraine spätestens Ende Oktober ein neues Parlament wählen, denn die Rada-Abgeordneten wurden zuletzt im Sommer 2019 gewählt. Doch in der Ukraine wird alle drei Monate im weitergehenden Krieg das Kriegsrecht verlängert; Wahlen sind dem Gesetz über das Kriegsrecht zufolge dann verboten.

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Und selbst wenn es anders wäre, wären Wahlen - auch des Präsidenten, dessen fünfjährige Amtszeit eigentlich 2024 endet - im fortdauernden Krieg wohl keine ernsthafte Perspektive. "Sicher, eigentlich wären Wahlen gut", sagt die Abgeordnete Klymenko. "Aber neben dem Kriegsrecht spricht viel dagegen: Wer soll gerade an der Front sichere Wahllokale organisieren? Wie könnten unsere 15 Millionen Binnenflüchtlinge und Ukrainer im Ausland abstimmen, wie würden wir Manipulationen bei der Stimmabgabe unserer einer Million Uniformierter verhindern? Und vor allem müssten wir vor einer Wahl erst einmal unser politisches Leben wiedereröffnen. Wahlen brauchen Diskussion, Wahlkampf, öffentliche Treffen - nichts davon ist in der Ukraine heute möglich." Auch mehr als 100 Vertreter angesehener Bürgergruppen haben einen Aufruf gegen die Abhaltung von Wahlen im Krieg unterschrieben.

Eine Wahl im Krieg fände im faktischen Informationsmonopol der Regierung statt. Nicht nur der Zugang zum Parlament, sondern auch zu den Medien wird noch stärker als zuvor vom Selenskij-Lager dominiert. "Neulich gab es einen Skandal um eine Äußerung eines Präsidentenberaters", sagt die Abgeordnete Klymenko. "Journalisten baten mich um einen Kommentar, der aber nie gesendet wurde - ich denke, weil dies jemandem in der Präsidialverwaltung nicht passte."

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