Ukraine:Warnung vor dem Stellungskrieg

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Wie lange wird Russland noch angreifen? Ukrainische Soldaten am St. Michaelskloster in Kiew. (Foto: Sergei Supinsky/AFP)

Der ukrainische Oberbefehlshaber glaubt nicht mehr an große Durchbrüche. Die russische Armee intensiviert dennoch ihre Angriffe und beschießt so viele Ortschaften wie noch nie in diesem Jahr.

Von Nicolas Freund

Wenn es das Schwarzpulver noch nicht gäbe, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, es zu erfinden, zumindest laut Walerij Saluschnyj, dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte. Der hat dem britischen Economist ein Interview gegeben und gesagt, die russischen und ukrainischen Truppen befänden sich inzwischen in einer Art Pattsituation, die er mit den Stellungskämpfen des Ersten Weltkriegs verglich. Grund dafür sei, wie damals, ein derart hohes Level an militärischer Technologie auf beiden Seiten, dass Angriffe kaum mehr eine Chance auf Erfolg hätten.

Die russische Armee hat vor einem Jahr nur unter größten Anstrengungen und mit Hilfe der Wagner-Söldner die eigentlich unbedeutende Stadt Bachmut eingenommen. Seit einigen Wochen scheitert sie immer und immer wieder an einem Angriff auf Awdijiwka. Auch die ukrainische Armee kommt mit ihrer lange angekündigten Gegenoffensive im Süden des Landes sowie bei Bachmut kaum voran. "Es wird sehr wahrscheinlich keinen großen und schönen Durchbruch geben", sagte Saluschnyj dem Economist. Auch einen entscheidenden technologischen Fortschritt, wie ihn vor Hunderten Jahren das Schwarzpulver brachte, sieht er in absehbarer Zeit nicht kommen.

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Er verstehe, wenn man den Begriff nicht möge, sagt der Verteidigungsminister - es brauche in Deutschland aber ein anderes Bewusstsein. Bei einem Anschlag im besetzten Melitopol werden nach ukrainischen Angaben mehrere russische Offiziere getötet.

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Schlachtfelder werden lückenlos von Drohnen überwacht

Er nennt die Gründe für diese Situation: Riesige Minenfelder würde Vorstöße zum Stillstand bringen und weil das ganze Schlachtfeld lückenlos von Drohnen überwacht wird, geraten sämtliche Angreifer sofort unter den Beschuss der gegnerischen Artillerie. Beide Seiten hätten auf diese Art schon schwere Verluste erlitten, die ukrainische Armee verlor auch einen Teil der vom Westen gelieferten Waffensysteme.

Bei den russischen Truppen nennt Saluschnyj die nicht unrealistische Zahl von inzwischen 150 000 Gefallenen. "In jedem anderen Land hätten solche Verluste den Krieg beendet", sagte er dazu. Seine Sorge ist, dass sich der Krieg noch mehr zu einem Abnutzungskampf entwickelt, der sich über Jahre hinziehen könnte. Möglicherweise ist aber genau das der Plan Moskaus. Denn langfristig könnte nicht nur die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachlassen, Russland kann mit seiner größeren Wirtschaft und Bevölkerung einen solchen Krieg schlicht länger durchhalten.

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Einen weiteren Grund für die aktuelle Situation sieht Saluschnyj auch in den späten Waffenlieferungen. Die Panzer und weiter reichenden Raketensysteme, die nun geliefert wurden, wären vergangenes Jahr nach den Befreiungen großer Gebiete bei Charkiw und Cherson nötig gewesen. Ähnlich sei es nun bei den F-16-Kampfflugzeugen, die erst kommendes Jahr an die Ukraine geliefert werden sollen.

Diese Sichtweise teilen auch manche Experten wie George Barros vom Institute for the Study of War. In einem Podcast des britischen Telegraph sagte er am Mittwoch, ein Angriff wie er der ukrainischen Armee im Oktober auf einen russischen Flugplatz gelang, bei dem viele Kampfhubschrauber beschädigt wurden, hätte eigentlich am ersten Tag der Gegenoffensive stattfinden müssen. Da waren die entsprechenden Raketen aber eben noch nicht geliefert.

Nordkorea liefert angeblich eine Million Granaten an Russland

Das Interview mit Saluschnyj zeichnet ein düsteres Bild der aktuellen militärischen Lage in der Ukraine. In einem begleitenden Essay schreibt der Oberbefehlshaber, was nun getan werden müsse: Neben dem Ausbau der Luftwaffe, dem Bekämpfen der russischen Artillerie und der Ausbildung von Reservisten sieht er vor allem Einsatz und Abwehr von Drohnen als entscheidenden Faktor. Zur Aufklärung wie für Luftangriffe würden Drohnen immer wichtiger, gleichzeitig habe sich bei ihrem Einsatz ein Wettkampf der elektronischen Kriegsführung entwickelt, was Störsender und ihre Überwindung angeht. Russland habe zuletzt seine Fähigkeiten in diesem Bereich modernisiert.

Trotz großer Verluste beim versuchten Sturm auf Awdijiwka haben die russischen Angriffe in dieser Woche an Intensität zugenommen. Laut dem ukrainischen Innenminister Ihor Klymenko sind am Dienstag fast 120 Ortschaften beschossen und mit Drohnen angegriffen worden - so viele wie noch nie in diesem Jahr. Menschen sollen bei den Angriffen getötet und verletzt worden sein, genaue Angaben machte der Minister nicht. Der Beschuss fällt zusammen mit der Meldung des südkoreanischen Geheimdienstes, Nordkorea habe mehr als eine Million Artilleriegranaten an Russland geliefert.

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