Der Künstler, ein schweigsamer Maler aus der Westukraine, hält sich bescheiden im Hintergrund, während sein begeisterter Sponsor die Ausstellung erklärt: Es gehe hier um eine Lektion in Patriotismus und Heldentum. Die Halle von der Höhe eines Kirchenschiffs ist gefüllt mit mannshohen Gemälden in Pastellfarben, die mittelalterliche Schlachten zeigen - das Gefecht an den blauen Wassern von 1362 etwa oder Tannenberg 1410, vorzugsweise aber Kämpfe, in denen das russische Heer oder die mongolischen Horden von einem todesmutigen Gegner in Unterzahl besiegt wurde. Nur drei Tage lang habe er das Ukrainische Haus, ein Veranstaltungszentrum in der Nähe des Maidan, mieten können, ruft der Sponsor, mehr sei einfach zu teuer gewesen. Aber die Welt solle sehen, dass es immer wieder die Völker im Osten gewesen seien, die den Ansturm der Russen auf Europa aufgehalten hätten: Litauer, Polen - und jetzt natürlich die Ukrainer.
Die Kiewer haben andere Sorgen. Draußen in der sonnenbeschienenen Hauptstadt interessiert sich niemand für Bilder von reitenden Kosaken und blutverschmieren Schwertern, auch wenn das Land den "Tag der Verteidiger der Ukraine" begeht - ein neuer Feiertag, der die sowjetische Tradition des "Tages der Vaterlandsverteidiger" ersetzt. Der Krieg im Donbass und der heldenhafte Kampf der eigenen Truppen sind längst nicht mehr das vordringliche Thema im Land. Zwar kostet der Konflikt im Osten immer noch sehr viel Geld, aber zuletzt sind keine ukrainischen Soldaten mehr gefallen, die Waffen schweigen weitgehend.
Das Bedrohungsgefühl weicht
Den Donbass zurückerobern oder auch nur halten: Das steht, mehr oder minder kämpferisch, offiziell auf der Tagesordnung aller Parteien. Aber in einer Zeit, in der in ganz Europa Zäune wieder in Mode zu kommen scheinen, steigt auch die Zahl der Ukrainer, die am liebsten einfach einen Zaun um die besetzten Gebiete ziehen und die Menschen dort sich selbst und ihrem Helden Wladimir Putin überlassen würden. "Die haben sich das doch selbst ausgesucht und wollen gar nicht mehr integriert werden", ist an den Stammtischen und Bürotischen in der Hauptstadt zu hören. "Die hassen uns. Warum sollen wir also jetzt den Wiederaufbau bezahlen, nur weil der Kreml doch nicht zahlen will?"
Selbst die Begeisterung über den moralischen Kampf des ukrainischen David gegen den russischen Goliath, über das Widerstehen im Krieg der Werte, nimmt ab. Sollen die Russen mit ihrem kleinwüchsigen Diktator, ihrer Propaganda und ihren Lügen doch zehnmal sagen, der Westen sei verrottet und die Ukrainer seien alle Faschisten, sei's drum. Das Bedrohungsgefühl eines jederzeit möglichen russischen Einmarsches weicht. Nein, die Kiewer haben stattdessen aus ganz anderen Gründen Angst, dass alles umsonst gewesen sein könnte: der Aufstand, der Umsturz, der Krieg. "Was wir zur Zeit erleben, ist eine moderate Konterrevolution", sagt Dmitri Kuleba, Sonderbotschafter und strategischer Kopf im Außenministerium. "Vor einem Jahr waren die am lautesten, die gerufen haben: Wir müssen uns und das Land neu erfinden. Jetzt melden sich die Leute aus der Ära von Ex-Präsident Janukowitsch zurück, die kein Blut an den Händen haben - und dürfen auch offiziell wieder mitreden. Und mitverdienen."
Der Beginn der Maidan-Proteste, die ebenso sehr eine späte antisowjetische Revolte waren wie eine proeuropäische Bewegung, jährt sich in wenigen Wochen zum zweiten Mal. Und nicht nur die Reformer in der Politik, auch die reformbereiten Kräfte in der Zivilgesellschaft haben das Gefühl, ihnen laufe die Zeit davon. Das Fenster der Möglichkeiten, heißt es, beginne sich zu schließen, in dem es - vielleicht - möglich gewesen wäre, ein oligarisches System zu brechen. Und Politik nicht als Machtkampf der gekauften Parteien, sondern als Wettbewerb der Ideen zu gestalten.
Es habe ja durchaus sinnvolle Reformen gegeben, mit denen etwa Besitzverhältnisse oder Auftragsvergaben transparent gemacht wurden, findet Infrastrukturminister Andrij Piwowarskij, 37. Er wurde wie viele seiner Freunde und Mitarbeiter in den USA sozialisiert, ist Investmentbanker und Multimillionär und hat sich - für eine Weile zumindest - dem Dienst am Vaterland verschrieben. Piwowarskij ist ein Paradebeispiel für jene jungen Ukrainer, die viel Geld in der freien Wirtschaft machen und genauso gut in New York oder Paris leben könnten. Sie sind aus Idealismus nach dem Maidan-Aufstand geblieben, um mitzuhelfen, um das Land von Grund auf zu verändern. Nun werden sie ungeduldig. Man könne die Oligarchen nicht enteignen oder entmachten, sagt der junge Minister, "den Krieg können wir nicht gewinnen." Er versuche es lieber mit Deregulierung und Verhandlungen. Das dauert. Ob das Land so viel Zeit hat? Er gebe sich noch ein Jahr, sagt Piwowarskij, dann sei er weg.
Korrupte Justiz, kompliziertes Wahlsystem
Die Gründe für den Mangel an tief greifenden Reformen, das bestreitet kaum ein Gesprächspartner, sind hausgemacht, da hilft auch der permanente Verweis auf die Unmöglichkeit der Politik in Zeiten des Krieges nicht mehr viel: Regierung und Präsident haben die Oligarchen nicht aus der Politik herausgedrängt, sie haben vielmehr neue Allianzen zugelassen. Die Korruption, ohne die ein Großteil der unterbezahlten Staatsdiener ihre Familien nicht ernähren könnte und die schon deswegen Teil des Systems ist, wurde nicht bekämpft, wo sie entsteht: in der Verwaltung, bei den Gehältern. Die Justiz ist so verrottet wie eh und je: Der Generalstaatsanwalt gilt als bestenfalls unfähig, schlimmstenfalls korrupt, kein einziger wichtiger Korruptionsfall aus der Janukowitsch-Ära ist zur Anklage gebracht, kein Täter des Maidan-Massakers von 2014 verurteilt.
Die Kyiv Post hat eine ganze Sonderausgabe gedruckt über die "Behinderung der Justiz; warum der Generalstaatsanwalt gefeuert werden sollte". Auch die USA, die lautstark auf weitergehende Reformen drängen, werden ungeduldig. Die Europa-Staatssekretärin im Washingtoner Außenministerium, Victoria Nuland, die heftig mitmischt in der ukrainischen Innenpolitik, wird mit dem Satz zitiert, der Apparat der staatlichen Ankläger müsse neu erfunden werden. Aber offenbar denkt Präsident Petro Poroschenko nicht daran, denn damit würde er Kontrolle abgeben und den volatilen Frieden mit dem System der Profiteure riskieren.
Julia Timoschenko dürfte ein Comeback feiern
Nun sollen am kommenden Sonntag Kommunal- und Regionalwahlen stattfinden, und die Wahlen werden von allen Seiten auch als Gradmesser dafür gewertet, wie die Reformen der vergangenen Monate bei den Bürgern ankamen. Zu wenig Veränderung? Oder doch schon zu viel? Mehr als 200 000 Kandidaten von 132 Parteien bewerben sich um Bürgermeisterposten und Sitze in Gemeinde- oder Bezirksräten. Das Wahlsystem ist so irrsinnig kompliziert, dass es selbst die, die es erdacht haben, nur mit Mühe erklären können. Kritiker vermuten, dahinter stehe der Versuch, Manipulation durch Intransparenz möglich zu machen. Olga Aivazovska von der Wahlbeobachtergruppe Opora befürchtet, das Chaos werde so groß sein, "dass es Misstrauen bei den Wählern und Zweifel an den Ergebnissen sät".
Gerade mal vier, vielleicht fünf Parteien haben eine Chance, sich landesweit zu behaupten. Nicht mehr dabei ist die Partei von Premier Arsenij Jazenjuk, die bei der Parlamentswahl vor einem Jahr überraschend stärkste Kraft geworden war. Weil Jazenjuk mitverantwortlich gemacht wird für die Verschlechterung der Lebensverhältnisse, für Teuerung und Währungsverfall, ist seine Popularität am Boden. Seine Partei tritt aufgrund miserabler Umfragewerte diesmal gar nicht mehr an.
Ein Comeback dürfte überraschenderweise die talentierteste aller ukrainischen Populistinnen feiern, Julia Timoschenko. Umfragen sagen voraus, ihre Vaterlandspartei könnte landesweit auf Platz zwei kommen. Die Präsidentenpartei liegt auch gut im Rennen, ebenso die Truppe des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadovij, Samopomich (Selbsthilfe), die mit den drei anderen die Regierungskoalition bildet. Samopomich steht in dem Ruf, von dem Oligarchen Ihor Kolomojski finanziert zu werden, der aber auch noch eine zweite Partei am Start hat, Ukrop. Andererseits erhalten wohl fast alle Gruppierungen, die jetzt um Stimmen ringen, Gelder von Wirtschaftsmagnaten mit politischen Interessen. Das Gesetz für eine transparente staatliche Parteienfinanzierung ist zwar angenommen worden, aber noch nicht in Kraft.