Ist sie das jetzt, die lange angekündigte ukrainische Gegenoffensive? Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat in seiner täglichen Ansprache am Montag noch einmal versprochen, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Ebenfalls am Montag hatte die Pressesprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee mitgeteilt, in der Region Cherson habe ein Angriff begonnen, dazu aber keine weiteren Informationen geben wollen. Am Dienstag bekräftigte sie noch einmal: "Es finden gerade Kämpfe statt und diese erfordern eine Informationsruhe." Ukrainische Medien berichten von "schweren Kämpfen" in "fast der gesamten Region Cherson".
Auch das russische Verteidigungsministerium bestätigte die Gegenoffensive und erklärte diese aber, möglicherweise etwas verfrüht, als bereits "gescheitert". Kremlsprecher Dmitrij Peskow erklärte erneut, die "militärische Spezialoperation", wie der Krieg in der Ukraine in Russland genannt werden muss, verlaufe nach Plan. Das hieß es zuletzt aus dem Kreml aber auch, als Finnland und Schweden entschieden, der Nato beitreten zu wollen, und die ukrainische Armee die Schlangeninsel im Schwarzen Meer zurückeroberte.
Etwas konkreter zur militärischen Lage im Süden der Ukraine sind da Großbritannien und die USA. Der britische Geheimdienst teilte in seinem täglichen Lagebericht mit, ukrainische Truppen hätten entlang der südlichen Frontlinie das Artilleriefeuer verstärkt. Das stellten auch die Amerikaner fest. In einem Pressebriefing des amerikanischen Verteidigungsministeriums hieß es, man sehe einen "Aufwärtstrend" bei den Kämpfen in der Region. Ansonsten herrscht in dem amerikanischen Briefing aber eher Ratlosigkeit, was das nun zu bedeuten hat. Eine "Gegenoffensive" wollte man die vermehrten Kämpfe nicht unbedingt nennen.
Die ukrainische Armee hat mit Angriffen auf Munitionsdepots und Flugplätze auf der besetzten Halbinsel Krim sowie mit der Zerstörung strategisch wichtiger Brücken über den Fluss Dnjepr seit Wochen versucht, die russische Armee im Süden des Landes von ihren Nachschubwegen abzuschneiden, was als Vorbereitung auf einen größeren Angriff interpretiert wurde. Ob die ukrainischen Streitkräfte wirklich versuchen werden, die Stadt Cherson zurückzuerobern, ist derzeit aber noch alles andere als sicher.
Experten warnen seit Monaten davor, dass für die Rückeroberung von Gebieten ganz andere Strategien und vor allem auch eine deutliche Übermacht der angreifenden Armee nötig seien. Ob die ukrainische Armee das beides aufbringen kann, ist noch unklar. Dazu kommt, dass ein Angriff auf eine Stadt extreme Gefahren mit sich bringt, zunächst natürlich für die Zivilbevölkerung, aber auch für die angreifenden Truppen, die mit einem Hinterhalt in jedem Haus rechnen müssen. Die Belagerung der Stadt Mariupol im Frühjahr zeigte schon, wie brutal und verlustreich Kämpfe um Städte sein können. Es sieht derzeit nicht danach aus, dass die ukrainische Führung dieses Risiko eingeht. Vielmehr scheint sie durch die Angriffe auf Versorgungslinien die russischen Besatzer wenigstens teilweise zum Rückzug zwingen zu wollen. Dazu passen auch die aktuellen Aussagen Selenskijs, russische Soldaten könnten sich gefahrlos ergeben: "Wir garantieren ihnen die Einhaltung aller Normen der Genfer Konventionen."
Alleine die realistische Möglichkeit einer solchen Gegenoffensive auf Cherson setzt die russischen Invasoren aber schon jetzt stark unter Druck. Die Stadt wurde zu Beginn des Krieges fast ohne Widerstand eingenommen. Die Eroberung war einer der bisher größten Erfolge des gesamten Feldzuges. Die Industriestadt Cherson ist die Hauptstadt der gleichnamigen Oblast und strategisch bedeutend an der Mündung des Flusses Dnjepr gelegen. Von hier aus kann nicht nur der Süßwasserzufluss zur Krim kontrolliert werden, auch Städte wie Odessa und Mykolajiw können bedroht werden.
Eine Rückeroberung durch die Ukraine wäre also aus Sicht der russischen Angreifer eine Katastrophe. Denn nicht nur wäre das Kriegsziel, die Ukraine vom Zugang zum Schwarzen Meer abzuschneiden, nicht mehr realisierbar. Auch in Russland ist es mit Sicherheit eine große Herausforderung für den Propagandaapparat, eine solche Niederlage zu erklären.
Zu groß sollten die Erwartungen an diese Angriffe nicht sein. Selbst wenn der Ukraine ein Erfolg in Cherson gelingen sollte, würde das vermutlich nicht sofort weitere Rückeroberungen nach sich ziehen. Zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland besetzten Gebieten verläuft der teilweise mehrere Kilometer breite Strom Dnjepr. Die Brücken über den Fluss hat die Ukraine selbst mit Raketen unpassierbar gemacht.