Überwachung:Auf dem Schirm des Terror-Radars

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  • Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz vor einem Jahr haben deutsche Sicherheitsbehörden ihr Vorgehen geändert.
  • Unter anderem wurden Kompetenzen gebündelt, sodass Verdächtige leichter abgeschoben werden können.
  • Gefährder, denen man keine konkreten Anschlagspläne nachweisen kann, sollen über den Beleg kleinerer Straftaten aus dem Verkehr gezogen werden.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke

Der Anschlag in Berlin vor nun einem Jahr hat die Angst im Land wachsen lassen. Aber ist auch das Rettende gewachsen? Was haben die Behörden aus dem Fall Anis Amri gelernt, ließe sich eine solch folgenschwere Attacke eines Islamisten auf deutschem Boden heute verhindern? Von Verantwortlichen in den Sicherheitsbehörden bekommt man da zwei Antworten: Nicht auszuschließen, dass etwas ähnlich Schreckliches noch einmal passiert. Aber man habe gelernt, vieles verändert, Schwachstellen identifiziert, verbessert und ausgebessert. "Nachgeschärft", nennt dies Holger Münch, der Präsident des Bundeskriminalamtes.

Auf drei Veränderungen ruht die Hoffnung der Behörden, dass jedenfalls ein ausreisepflichtiger, krimineller Asylbetrüger, der sich offen zum sogenannten Islamischen Staat bekennt, heute nicht mehr zwölf Menschen mitten in Berlin töten könnte. Er würde unter Kontrolle gehalten, früher eingesperrt und abgeschoben. So jedenfalls sagen es die Verantwortlichen. Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine neuen Gesetze brauchte. Sondern nur eine Veränderung der Praxis.

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Seit dem Fall Amri gab es mehr als 50 Abschiebungen und Ausreisen von Gefährdern

Da ist, erstens, die Abschiebung. Amri hätte schon längst wieder in Tunesien sein müssen, aber es scheiterte am mangelndem Druck der deutschen Behörden und dem Widerwillen der dortigen Regierung, solche Leute zurückzunehmen. Dass sich Ausländer, die sich offen zum Dschihad bekennen, oft nicht abschieben lassen, identifizierte die Bundesregierung unmittelbar nach dem Berliner Anschlag als eine der größten Schwachstellen. Inzwischen schalten sich höchste Regierungsstellen ein, wenn ein Land einen Gefährder nicht zurücknehmen will. Selbst die Kanzlerin wurde schon aktiv, Staatssekretärin Emily Haber aus dem Bundesinnenministerium greift regelmäßig selbst zum Telefon.

Nach grober Rechnung haben ein Drittel der aktuell rund 720 Gefährder einen ausländischen Pass. Viele stammen aus Marokko, Pakistan, Afghanistan oder aus Syrien. Nur die Abschiebung nach Syrien gilt als unmöglich. In allen anderen Fällen tagt monatlich die sogenannte AG "Status" im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) in Berlin. In jeweils dreitägigen Sitzungen wird jeder Fall akribisch besprochen; woran klemmt es, was kann man tun, um die Leute aus dem Land zu bekommen? Ergebnis des veränderten Vorgehens: mehr als 50 Abschiebungen und Ausreisen seit dem Fall Amri. Nicht alle dieser 50 waren als Gefährder eingestuft, bisweilen sind es auch gewöhnliche Kriminelle mit Kontakten in die islamistische Szene.

Mindestens weitere 100 stehen noch zur Bearbeitung auf der Liste. Manche Fälle gelten als sehr schwierig, auch weil die Gerichte umfassende Zusicherungen verlangen, dass die Abgeschobenen in ihren Heimatländern, die nicht immer Rechtsstaaten sind, rechtsstaatlich behandelt werden. Ein weiteres Drittel der Gefährder hat neben einer ausländischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit - was es unmöglich macht, sie aus dem Land zu bekommen. Nun prüfen die Behörden, in welchen Fällen ein Entzug des deutschen Passes möglich wäre - ein vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte heikles und kompliziertes Unterfangen.

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Vor Amri fehlte es an einem klaren System: Wann hat die Strafverfolgung Vorrang, wann die Abschiebung? Inzwischen signalisiert die Justiz früh, ob sie bei einem Islamisten gute Aussichten für einen Haftbefehl sieht. Sonst gehen die bisher gesammelten Hinweise an die Ausländerbehörden - zur Begründung der Abschiebung. Diese ist Ländersache, aber die rechtlichen Hürden sind hoch. Früher riet das Bundesinnenministerium Hilfe suchenden Ländern schon einmal, es doch bitte erst einmal selbst zu versuchen. Heute bietet Berlin jede Hilfe an, sogar, die Anträge gleich selbst zu schreiben.

Erstes Beispiel für die neue Linie war gleich zu Beginn des Jahres Bilel A., ein Freund Amris. Mit ihm, der mindestens 18 Alias-Identitäten verwendete, hatte sich Amri noch am Tag vor dem Anschlag getroffen. Auf dem Handy von Bilel A. fanden sich Bilder des Weihnachtsmarktes am Breitscheidplatz oder eine Szene, wie ein gefesselter 15-Jähriger von einem Zwei- und einem Fünfjährigen mit Plastikschwertern symbolisch geköpft wurde. "Allahu akbar", rief Bilel A. dazu. Dennoch sah der Generalbundesanwalt keine Beweise für eine Komplizenschaft zu Amri. So ging man schnell zum Alternativplan über: Bilel A. wurde Anfang Februar aus der Haftanstalt Berlin-Moabit zum Flughafen gebracht und nach Tunesien ausgeflogen.

Jüngstes Beispiel: Zwei bosnische Brüder aus Mecklenburg-Vorpommern wurden im August abgeschoben. Ermittlungen des BKA hatten zuvor keine ausreichenden Beweise für einen geplanten Anschlag erbracht, aber die beiden hatten Verbindungen nach Syrien und sollen IS-Attentate bejubelt haben. Die Arbeit der Polizei erwies sich als schwierig, die Brüder drehten schon einmal in einem Baumarkt abrupt um und begrüßten das Observationskommando. Die Behörden entschieden sich also für eine Abschiebung, die Brüder verzichteten auf juristische Gegenwehr.

Die Staatsanwaltschaften, zweitens, schauen heute anders auf solche Personen. Bei Amri herrschte ein ziemliches Chaos, sieben Anklagebehörden ermittelten, wussten oft nichts voneinander. Das müsse sich dringend ändern, darauf drängen nun vor allem Generalbundesanwalt Peter Frank und seine Experten. Islamistische Gefährder müssten in der Justiz stets Chefsache sein. Die Idee ist simpel: So wie einst der Chicagoer Mafia-Boss Al Capone über eine Steuerhinterziehung zu Fall gebracht wurde, so sollen heute mutmaßliche Dschihadisten, denen man keine Anschlagspläne nachweisen kann, notfalls wegen kleiner Straftaten aus dem Verkehr gezogen werden. Juristisch ist das nicht schön, aber immerhin effektiv.

Bei Amri wäre dies womöglich die Chance gewesen, er war als Drogendealer aufgefallen. Doch niemand machte den Versuch, ihn zu inhaftieren. In der Vergangenheit befassten sich manche für Terror zuständige Generalstaatsanwälte in den Ländern nur ungern mit den Niederungen der Alltagskriminalität. Inzwischen haben viele Justizbehörden begonnen, neue Teams für Ermittlungen aufzubauen, sie versprechen, Islamisten nicht mehr aus den Augen zu lassen - und auch kleine Vergehen bei dieser Klientel mit neuer Härte zu verfolgen.

Allein mehr als 1000 Terror-Verdächtige sind in diesem Jahr schon aufgelaufen beim Generalbundesanwalt. Mehr als 300 Ermittlungen hat er an die Länder abgegeben, aus schierer Überlastung. "Wahrscheinlich wird man die Hälfte wieder einstellen müssen", schätzt ein Generalstaatsanwalt in einem Bundesland, aber vielleicht finden sich bei ihnen andere Delikte.

Die vielleicht größte Hoffnung für mehr Sicherheit aber ruht auf der dritten Veränderung, sie trägt den sperrigen Namen "Arbeitsgruppe Risikomanagement" und tagt seit dem 1. Juli praktisch ununterbrochen im GTAZ. Vor dem Fall Amri gab es keine klaren Regeln, wer nun eigentlich als Gefährder zu betrachten und wie scharf zu überwachen sei. Viel zu oft, so sagen es Staatsschützer, "ging dies nach Bauchgefühl". Schon vor dem Berliner Anschlag hatte das BKA sich gemeinsam mit Wissenschaftlern an die Entwicklung eines neuartigen Analyse-Tools namens Radar-iTE gemacht: Es ist eine akribische Erhebung von 61 Risiko- und zwölf sogenannten Schutzfaktoren, die es möglich machen soll, die Bereitschaft eines Islamisten zur Gewalt besser abzuschätzen.

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Manche Polizisten in den Ländern hatten Zweifel an der Tauglichkeit, aber direkt nach dem Anschlag speisten BKA-Fahnder die bereits zuvor gesammelten Erkenntnisse zu Amri in Radar-iTE ein. Er kam als "hohes Risiko" heraus, das ist die Stufe Rot. Die Berliner Polizei hatte ihn zuvor als weniger gefährlich eingestuft. Inzwischen läuft das System, eine Art Gefährder-Ampel, bundesweit. Nach Zählung von Ende November wurden 205 der aktuell rund 720 Gefährder überprüft. Da viele von ihnen im Ausland sind oder in Haft sitzen, sind damit sehr viele der Top-Islamisten überprüft - und die Ergebnisse sind verblüffend. 82 von ihnen landeten wie Amri in der roten Kategorie, 27 in der orangefarbenen Gruppe, die für ein "auffälliges Risiko" steht. Die meisten aber - 96 Personen - wurden als "moderates Risiko" in der gelben Kategorie abgespeichert.

Die Fahnder suchen nach "Psycho-Sprengsätzen" unter bekannten Gefährdern

Inzwischen bildet sich ein Muster heraus, wer mit Rot beurteilt wird, vorherige Gewalttätigkeit, oft auch in Kombination mit psychischer Auffälligkeit, spielt eine entscheidende Rolle. Da ist etwa der Fall eines Mannes, der früher schon Frau und Kinder grausam quälte und nun den Islam für sich entdeckt hat. Oder einer, der seine Schwester aus dem Fenster werfen wollte, damit sie schneller ins Paradies kommt. "Psycho-Sprengsätze" nennen sie die Staatsschützer, und es sind sie, auf die sich nun die Überwachung konzentriert. In der AG "Risikomanagement" werden auch Psychologen hinzugezogen. Die für die Kontrolle zuständigen Länder berichten regelmäßig. Und während sie früher bisweilen eifersüchtig auf ihre Eigenständigkeit achteten, haben sie sogar einer Aufsicht durch das BKA zugestimmt.

Noch zögern Behörden, Gefährder aus der Gruppe mit dem "moderaten Risiko" ganz aus der Beobachtung herauszunehmen - dann könnte die Zahl der zu überwachenden Personen nach Jahren des Anstiegs auch wieder einmal sinken. Zu groß scheint den Verantwortlichen noch das Risiko, falsch zu liegen. Manche Sitzungen aber ähneln aktiver Sozialarbeit: Was kann man tun, damit ein Islamist Arbeit findet, sich fortbildet, integriert - alles sogenannte Schutzfaktoren - und dann auch auf diesem Weg bleibt?

2016 war das Jahr, in dem der islamistische Terrorismus Deutschland erschüttert hat wie nie zuvor. 2017 hat das Land vergleichsweise viel Glück gehabt. Die Statistik zählt drei verhinderte und einen ausgeführten Anschlag - mit einem Messer in einem Hamburger Supermarkt, ein Mensch starb. Der sogenannte Islamische Staat ist zerschlagen, aber Anhänger seiner tödlichen Ideologie gibt es noch viele.

Ob nun das Glück anhält, ist die eine Frage. Ob Deutschland aus dem Fall Amri die richtigen Lehren gezogen hat, die andere, die entscheidende Frage.

© SZ vom 18.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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