Das Interesse der Öffentlichkeit galt erst dem Täter. Dann den Sicherheitsbehörden. Aber nicht den Opfern und Hinterbliebenen des tödlichen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, der sich am Dienstag jährt. Drei Hinterbliebene haben der Süddeutschen Zeitung in den vergangenen Monaten geschildert, wie sie dieses Jahr erlebt haben. Ihre Bedingung: Der Name des Täters solle in dem Artikel nicht genannt werden.
Frederike Herrlich, Ueckermünde. Ihr Sohn rettete bei dem Anschlag das Leben seiner Bekannten, er kam um.
"Am Dienstag, dem 20. Dezember, bekam ich einen Anruf von einer Freundin, die nichts ahnte und sagte: Du, wir haben uns verabredet unter Freunden, eine Kerze ins Fenster zu stellen für Berlin, für die Menschen dort. Ich habe ihr dann gesagt, Christoph ist vermisst. Sprachlosigkeit.
Ich bin in die nächste Polizeiwache gegangen, weil ich dachte, die haben vielleicht Zugang zu Informationen, die ich woanders nicht bekomme. Mir ist da bewusst geworden: Wenn Beamte an einer Hotline sitzen, das ist eine extrem schwierige Situation. Diese Hilflosigkeit auf allen Seiten. Deshalb kann ich einfach nur dafür sprechen, als Gesicht sich mal zu zeigen. Dann kamen auch drei Herren vom Landeskriminalamt, die sehr besorgt waren, wie ich untergebracht sei. Ob ich betreut würde oder ob da ein Bedarf bestehe.
Seither erlebe ich eher eine Vereinzelung. Weil es auch um die Abwicklung von Kosten, die Versorgung von Verletzten und deren weiteres Leben geht. Konkret zum Beispiel: Christoph wohnt in Berlin. Wir mussten die Wohnung auflösen. Um nicht noch mehr Kosten anzuhäufen. Wir hatten Anfahrtswege. Sind wir für diese Kosten verantwortlich? Da ist einfach auch die Frage: Wie geht man damit um? Müssen wir uns dafür rechtfertigen? Das können wir nicht. Müssen wir jetzt diskutieren, welche Kosten anerkannt werden oder nicht? Ich finde das ziemlich entwürdigend."
Sascha Klösters, Neuss. Er überlebte den Anschlag schwer verletzt, seine Mutter kam ums Leben.
"Es ist nicht viel Platz in diesen Glühweinbuden. Man hat die Möglichkeit, links oder rechts in so einem kleinen Flur zu stehen. Dann sind wir natürlich auch mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen, mit der Inhaberin hatten wir uns ein bisschen angefreundet und mal Small Talk gehalten, eine total aufgelockerte Atmosphäre. Wir hatten den Blick quer zur Gehrichtung des Weihnachtsmarktes. Den Lkw selber haben wir erst nicht gesehen. Wir haben nur gehört, wie es geknallt hat. Wie das immer lauter wurde. Wir haben nur noch die Schreie gehört von den Leuten, die weggerannt sind. Und wir dachten: Es ist wurst, was es ist, es muss jetzt hieran vorbei. Dann ist er direkt durch unseren Glühweinstand gefahren.
Ich habe nur noch so eine Wand mit Schutt, Metall, Grünzeug wahrgenommen. Alles ist mir entgegengeflogen. Und dann habe ich nichts mehr gesehen. Dann bin ich wohl vorne vom Lkw erfasst und komplett durch den Glühweinstand gestoßen worden und kam auf der Budapester Straße wieder raus. Ich bin dann eher so rausgestolpert aus der ganzen Sache.
Dann habe ich mich umgedreht und wollte nach meiner Mutter suchen. Ich habe sie in den Trümmern gefunden, war aber nicht in der Lage, sie da herauszuziehen. Irgendwie war das Gehen bei mir schon sehr schwer. Mit den ganzen Brüchen, die ich hatte. Von den ersten drei Helfern, die mich erreichten, haben sich zwei Mann erst mal übergeben.
Ich hatte etwa noch drei bis vier Minuten mit meiner Mutter geredet. Sie hat mir irgendwie noch ihr Handy gegeben oder eine schwarze Tasche. Dann wurde ich weggetragen von Helfern, weil dann auch die Schmerzen einsetzten, und dann habe ich das alles nur noch aus der Entfernung mitbekommen. Wie die dann anfingen mit den Reanimations-Maßnahmen bei meiner Mutter. Da habe ich mir schon ausgemalt, dass das nicht gut ausgeht.
Ja - Berlin. Das war so eine Idee von mir gewesen. Ich hatte meiner Mutter den Vorschlag gemacht: Wie sieht's denn aus? Hättest du mal Lust, nach Berlin zu reisen? Und dann habe ich ihr die Reise geschenkt. Sie wollte das unbedingt und hat mich gefragt. Wann fahren wir denn? Morgen?
Ich habe da eine Weile gelegen. Dann wurde ein Zelt aufgebaut, wo alle Verletzten gesammelt wurden. Und Sie können sich nicht vorstellen, was in dem Zelt los war. Da kamen alle Verletzten rein, das war ein Horrorszenario. Jeder bekam ein Bändchen um den Arm. Damit man zugeordnet wurde. Ich war einer der Letzten, die das Zelt verlassen haben. Mit dem Rettungswagen, der dann auch nicht den Eingang zur Charité gefunden hat. Der ist dann irgendwie über die Wiese gefahren. Der Notarzt hat mir unterwegs noch mitgeteilt, dass das Funknetz der ganzen Rettungskräfte ausgefallen sei. Dann wurde die Sperre aufgebrochen zum Krankenhaus."
Astrid Passin, Berlin. Ihr Vater kam bei dem Anschlag ums Leben.
"Im Hort meiner Tochter wurde zu einem Opa-Oma-Tag geladen. Zu diesem Tag wurde ein Bild gemalt von den Kindern. Das war leider alles geschwärzt von meiner Tochter. Weil sie ihren Opi nicht mehr in der Form wirklich vor sich sah. Es sind so Dinge, die so durchsickern, wo man sofort weiß, was passiert ist, was der Hintergrund ist. Sie äußert sich in dieser Form. Wo ich gesagt habe: Du mein Schatz, es gibt ja auch noch den anderen Opa, der kommen kann. Der sicherlich auch kommen wird.
Nach der Traueranzeige, die ich für meinen Vater geschaltet hatte, kam viel Trauerpost. Was ich als sehr schön empfand: dass mit vielen Trauerkarten nicht nur die Kondolenz kam, sondern auch eine Art Fürsprache, dass man wahrgenommen wird, dass man mit uns trauert und dass wir stark sein sollen. Dass wir in diesem Moment sagen können: Wir sind nicht allein, sondern es denken ganz viele an uns.
Eigentlich wollten mein Vater und seine Lebensgefährtin an diesem Abend in Berlin ins Theater gehen. Sie haben keine Karten mehr bekommen. Dass sie stattdessen auf dem Weihnachtsmarkt waren, habe ich erst am nächsten Morgen erfahren. Da hat mich die Lebensgefährtin angerufen. Sie wusste, dass ich meine Tochter zur Schule gebracht hatte, sie hat den Moment wahrscheinlich abgewartet, bis ich alleine bin, um so eine Nachricht zu empfangen.
Es klingelte. Ich weiß noch, es war halb acht am Dienstagmorgen. Sie hat nur geweint und was geschrien am Telefon. Ich wusste auch nicht, dass sie das ist am Telefon. Ich habe sie nicht verstanden. Und irgendwann kam dann der Satz: Papi ist tot. Und da ist erst mal . . . Wie jetzt - Papi ist tot. Und dann hat sie mir gesagt: Wir waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.
Ich konnte dann auch nicht mehr weiterreden. Das war dieser Moment, der so einschlug im Körper, wie man es nicht kennt, wie man es nicht kennen kann. Eine absolute Ausnahmesituation. Gott sei Dank war ich allein.
Zwischenzeitlich hat meine Freundin den psychologischen Dienst von Brandenburg erreichen können, der mit zwei Leuten zu mir nach Hause kam. Wir haben gemeinsam überlegt, wie wir es meiner Tochter beibringen. Der Vorschlag von denen war: Sagen Sie doch Ihrer Tochter, dass Ihr Papi im Krankenhaus liegt und schwer verletzt ist. Und da habe ich gesagt: Das geht überhaupt nicht. Ich fand die Antwort auch nicht professionell und für unsere Situation total unangemessen. Da habe ich gesagt: Tut mir leid, aber so bringe ich es nicht rüber. So kann ich es nicht. Ich will die Wahrheit sagen. Ich habe mich dann von denen verabschiedet, weil ich gespürt habe, dass das auch für die eine neue Situation war, auf die sie nicht vorbereitet waren."