Parlamentswahl in Tunesien:Stiller Protest gegen den Präsidenten

Lesezeit: 3 min

Eine Tunesierin bei der Stimmabgabe während der Parlamentswahl. (Foto: Zoubeir Souissi/Reuters)

Präsident Kais Saied wollte mit der Wahl neuer Abgeordneter dem Umbau des Systems in eine Art Basisdemokratie einen legitimen Anstrich verpassen. Doch die Wähler verweigerten sich und blieben zu Hause.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Die überwältigende Mehrheit der Tunesier hat wie erwartet die Parlamentswahlen am Samstag boykottiert. Der Leiter der staatlichen Wahlkommission Faruk Buasker verkündete nach Schließung der Wahllokale eine dürftige Wahlbeteiligung von 8,8 Prozent. Über eintausend Kandidaten hatten sich für die 161 Sitze der ersten Kammer des Parlaments beworben. Doch wegen der kurzen Vorbereitungszeit und dem Ausschluss politischer Parteien fand so gut wie kein Wahlkampf statt. Angetreten waren viele unbekannte Kandidaten, die erstmals politisch aktiv waren.

Faruk Buasker nannte als Grund für die geringe Wahlbeteiligung die erstmals seit der Revolution von 2011 ausgebliebenen ausländischen finanziellen Hilfen für die Kandidaten. Nachdem Präsident Kais Saied im Sommer letzten Jahres das Parlament und die Regierung abgesetzt hatte, wurden Spenden an politische Parteien und Nicht-Regierungsorganisation streng kontrolliert.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

Opposition und Zivilgesellschaft kommentierten die niedrige Wahlbeteiligung mit Erleichterung und deuteten das Ergebnis als klaren Misstrauensbeweis gegen den Präsidenten und seinen Regierungsstil. "Damit ist das Projekt von Kais Saied gescheitert", so Kerim Sarrat, ein politischer Analyst aus Tunis. Der Beraterstab um Saied hatte während eines Besuchs in Washington erkennen lassen, dass man mit einer ähnlichen Wahlbeteiligung wie bei dem Verfassungsreferendum im Sommer rechne. Doch in einigen Wahllokalen waren nicht 30 Prozent der Wähler sondern lediglich 30 Wähler aufgetaucht, wie der 35-jährige tunesische Journalist Haithem al Mekki spöttisch bemerkte, der die landesweit beliebteste Radiosendung moderiert. Vor allem junge Leute wie Mekki ignorierten die Parlamentswahl völlig.

Dringend nötige Kredite des IWF sind gefährdet

Auf internationalem Parkett dürfte die Wahl als Rückschlag für Saied gewertet werden. Der Präsident nutzte unlängst den amerikanisch-afrikanischen Gipfel in Washington, um für sein Projekt der Basisdemokratie zu werben. Sein Putsch im letzten Jahr habe einen Bürgerkrieg verhindert, so der Juraprofessor. Die meisten der 2011 entstandenen politischen Parteien hält er für Lobbygruppen korrupter Geschäftsleute. Doch sein autokratischer Regierungsstil kommt weder in der Bevölkerung noch im westlichen Ausland gut an. Ohne ein demokratisch legitimiertes Parlament sind die dringend benötigten Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU in Gefahr. Der in Washington residierende IWF hatte die Verhandlungen mit der tunesischen Regierung vor der Wahl am Samstag vertagt.

Saied argumentiert immer wieder, er vertrete den Willen der politikverdrossenen Bevölkerung auf dem Land und in den Armenvierteln. Dort teilen zwar viele Saieds Ablehnung der politischen Elite. Doch zu der akuten sozialen und wirtschaftlichen Krise schweigt der Präsident. Bei seiner Stimmabgabe sprach er von einer "historische Gelegenheit" für die Bürger, "ihre Rechte von denen wiederzuerlangen, die das Land ruiniert haben".

Doch die Tunesier haben mit ihrer Wahlenthaltung nun mit dem Präsidenten gebrochen. Ursprünglich haben viele Wähler Saied unterstützt, weil die Lähmung des Systems bis hin zu live im Fernsehen übertragenen Handgreiflichkeiten im Parlament zwischen den ehemaligen Regimeanhängern und Islamisten als unwürdig und unpatriotisch empfunden wurden. Saieds konservative, aber nicht islamistische Grundhaltung stieß auf Zustimmung. Auch seine Elitenkritik und die Reformversprechen mit Blick auf die Bürokratie weckten viel Hoffnung. Doch der Präsident hat seine Zusagen bislang nicht eingehalten und vor allem wenig gegen die wirtschaftliche Misere im Land unternommen.

Opposition fordert den Präsidenten zum Rücktritt auf

Die Opposition, die zum Boykott der Abstimmung aufgerufen hatte, forderte Saied wegen der niedrigen Wahlbeteiligung zum Rücktritt auf. Er habe keine Legitimität mehr. Tunesiens Staatschef hatte das alte Parlament Ende März aufgelöst. Nach Einführung einer umstrittenen neuen Verfassung im Sommer konnte Saied auch ohne Zustimmung des Parlaments Regierung sowie Richter ernennen und entlassen. Die neue Volksvertretung wird nur noch wenig Befugnisse haben. Der mitgliederstarke und einflussreiche tunesische Gewerkschaftsverband UGTT, der lange zu Saied gehalten hatte, nannte die Parlamentswahl "wenig sinnvoll".

Die unabhängige Wahlbeobachterinitiative Mourakiboun berichtet von versuchten Stimmenkäufen in den zentraltunesischen Städten Gafsa und Sbeitla sowie der Stadt Nabeul. Am Montag wollen sich die Expertenmissionen des amerikanischen Carter-Centers und der Afrikanischen Union zu den Wahlen äußern. Das Europäische Parlament hat offenbar auch Beobachter geschickt, die sich aber nicht öffentlich äußern sollen. Dafür traten erstmals bei Wahlen in Tunesien rund ein Dutzend russische Wahlbeobachter vor die Kameras. Man wolle eine strategische Partnerschaft mit den tunesischen Behörden aufbauen, so ein Mitglied.

Das neue Parlament hat 161 Abgeordnetensitze. In einigen Wahlkreisen gab es allerdings keine Kandidaten, sodass die Volksvertretung bis auf Weiteres nicht vollständig besetzt sein wird. Mit ersten Ergebnissen rechnet die Wahlkommission bis Montag. In einigen Wahlkreisen wird eine Stichwahl erwartet. Der Ex-Juraprofessor Saied änderte vor der Abstimmung auch das Wahlrecht. So konnten die Bürger nun nur noch für einen Vertreter pro Wahlkreis stimmen. Bei früheren Wahlen traten Parteien oder Parteienblöcke mit mehreren Kandidaten an, darunter mussten stets auch Frauen sein. Diese Pflicht war nun entfallen.

Der Wahltag war von sichtbarem Desinteresse der Bürgerinnen und Bürger gezeichnet. In einem Wahllokal in der Nähe des Unabhängigkeitsdenkmals waren zwar die Namen der registrierten 900 Wähler des Wahlbezirks "Kasbah" auf Pinnwände geheftet, aber selten verirrte sich einer von ihnen in den Abstimmungsraum. Polizisten in Zivil und mit Westen gekennzeichnete Wahlhelfer standen gelangweilt herum.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFlucht aus Tunesien
:"Alle jungen Leute wollen einfach nur weg"

Es ist ein Exodus der Elite: Akademiker und Familien verlassen Tunesien in Richtung Europa. Sie dokumentieren ihre Flucht per Instagram - und unterschätzen die Gefahr.

Von Mirco Keilberth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: