Tunesien:Schweigen als Regierungsform

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Wo steckt dieser Mann? Ein Plakat in der Stadt Kairouan zeigt den tunesischen Präsidenten Kais Saied. (Foto: Kabil Bousena/AFP)

Inmitten einer dramatischen Krise war Präsident Kais Saied lange aus der Öffentlichkeit verschwunden. Viele Gerüchte gingen um - bis zu einer plötzlichen Wortmeldung.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Die Miene von Gesundheitsminister Ali Murrabit wirkte wie versteinert. Journalisten hatten ihn am Sonntag bei einer Veranstaltung abgefangen und nach dem Gesundheitszustand von Kais Saied befragt. Kommentarlos eilte Murrabit davon. Dabei kam die Frage kaum überraschend, denn ganz Tunesien rätselt, ob der Präsident überhaupt noch amtsfähig ist. Seit einem öffentlichen Gebet zu Beginn des Ramadan am 23. März ist der 65-Jährige nicht mehr öffentlich aufgetreten.

Nach einem angeblichen Herzinfarkt werde er in einem Militärkrankenhaus behandelt, sagen die einen. Ein Ärzteteam aus Deutschland sei auf dem Weg nach Tunis, besagen andere Gerüchte. Quellen aus dem Präsidentenpalast dagegen behaupten, Saied führe wieder die Amtsgeschäfte. Doch die ernsten Mienen in seinem Umfeld lassen Vermutungen nicht verstummen, dass die Armee zusammen mit Premierministerin Najla Bouden die Regierungsgeschäfte übernehmen könnte.

Der Hass auf Gegner und Migranten

In der von Saied im vergangenen Jahr durchgepeitschten Verfassung bleibt die Nachfolgeregelung für den Fall einer Amtsunfähigkeit des Präsidenten vage. Die ehemals populären moderaten Islamisten der Ennahda-Partei fordern schon lange die Wiedereinsetzung der Verfassung von 2014, nach der der Parlamentspräsident die Rolle eines erkrankten Präsidenten vorübergehend einnimmt. Bis zum 25. Juli 2021 war dies Ennahda-Parteichef Rached al-Ghannouchi. Doch an diesem Tag setzte der Jurist und Politikquereinsteiger Saied, der 2019 gewählt worden war, das Parlament und die Regierung ab und regiert seitdem praktisch alleine. Premierministerin Najla Bouden und einige ihrer Minister wurden von ihm selbst ausgewählt, das Wahlgesetz, auf dessen Basis im Januar die aktuellen Abgeordneten gewählt wurden, stammt aus seiner Feder.

Doch trotz seiner Machtkonzentration konnte Saied gegen die seit der Corona-Pandemie andauernde Wirtschaftskrise und die durch den Ukraine-Krieg gestiegenen Lebensmittelpreise nichts bewirken. Dafür fand er andere Sündenböcke. Aus Angst vor Unruhen erklärte Saied mit einer Rede im Januar die vielen im Land lebenden Migranten zum Teil einer Verschwörung gegen den Islam und die arabische Identität Tunesiens.

Die Folge waren gewaltsame Übergriffe gegen die meist aus Subsahara-Afrika stammenden Menschen, die sich nun mehrheitlich in die Boote der Menschenhändler setzen. Die entstandene Fluchtbewegung hat Tunesien innerhalb weniger Wochen zum größten Ausgangspunkt für Migranten auf dem Weg nach Europa gemacht.

Trotz seiner harschen Polemik gegen politische Gegner und Migranten unterstützten bisher viele Tunesier den Kurs des Präsidenten. Sein Ruf der Unbestechlichkeit steht immer noch im scharfen Kontrast zu der Verachtung, die viele gegen die politische Elite in Tunis hegen. Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Parteien hatten das Ausnahmeland des arabischen Frühlings, in dem eine demokratische Revolution gelang, zwar vor bürgerkriegsartigen Zuständen bewahrt, aber aus Sicht der Saied-Anhänger durch die allgegenwärtige Korruption in den Staatsbankrott geführt.

"Auf eine Demokratie, die keine Probleme löst, können wir verzichten."

Ein in der Verfassung von 2014 vorgesehenes Verfassungsgericht kam nie zustande, wäre aber wohl die einzige Institution, die den Putsch von Saied verhindert hätte oder nun seine mögliche Nachfolge regeln könnte. "Auf eine Demokratie, die keine Probleme löst, können wir verzichten", fasst ein Kioskbesitzer in Tunis-Lafayette namens Mohamed Abidi die Meinung vieler Landsleute zusammen.

Dass mittlerweile mehr als dreißig kritische Richter, Rechtsanwälte und Politiker im Gefängnis sitzen, wagen nur noch wenige Medien zu thematisieren. Unter den Festgenommenen ist auch der Besitzer des unabhängigen Radiosenders Mosaque FM. Die Vermutung liegt nahe, dass er deshalb verhaftet wurde, weil in dem Sender der Gesundheitszustand von Saied mehrmals thematisiert wurde.

Am späten Montagnachmittag wandte sich Saied per Facebook aus dem Präsidentenpalast an die Öffentlichkeit. "Meine Gegner und Journalisten haben mir schon eine Sterbeurkunde ausgestellt. Ich melde mich also aus dem Jenseits", spottete er dort. Er habe aber nur eine Erkältung und sei wohlauf, versicherte er der ihm gegenüber sitzenden Premierministerin Bouden.

Alle, die Gerüchte über seinen Zustand verbreitet hätten, würden von der Justiz zur Rechenschaft gezogen. Offenbar hatte er sich in der Wirtschafts- und Wasserkrise bewusst zurückgezogen. Man habe keine fertige Strategie, so Saied, "aber die am Montag über Tunesien niedergegangenen Regenschauer seien ein Zeichen der Hoffnung".

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Wegen der seit vier Jahren anhaltenden Dürre wird die Wasserversorgung für private Haushalte täglich und im ganzen Land für mehrere Stunden gekappt. Die Stauseen im Norden Tunesiens sind maximal zu einem Drittel gefüllt. Der Schock über die im Sommer möglicherweise zu einem Notstand eskalierende Wasserknappheit ist groß. In dieser Lage fällt immer mehr Tunesiern auf, dass Saied bisher kein Versprechen einlösen konnte.

Man hört jetzt nichts mehr von seiner Forderung, dass steuersäumige Geschäftsleute ihr hinterzogenes Geld in verarmten Teilen des Landes investieren müssten, und auch nichts von den dringend nötigen Krediten der Weltbank oder von befreundeten Golfstaaten. "Vielleicht ist sein Verschwinden ein Loyalitäts-Test?", fragt sich Kioskbesitzer Abidi. "Wie dem auch sei: Wir stehen als Land und Bürger vor existenziellen Herausforderungen. Die Abwesenheit der Regierenden kann doch keine Lösung sein."

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