Er muss mal wieder die Demokratie retten. Kleiner geht es nicht in diesem Land, nicht mal bei den Kommunalwahlen am Sonntag. Also spricht Ekrem İmamoğlu, der Oberbürgermeister von Istanbul, der heimliche Chef der türkischen Opposition, auch bei der Eröffnung eines Vorortparks über die Freiheit. Worüber sonst? Die Demokratierettung, das ist seine Stärke. Solange er in Freiheit ist und nicht in der Zelle, wo ihn Präsident Erdoğan wohl gern sähe, solange er die Metropole regiert, solange ist in der Türkei nicht alles verloren.
Vor fünf Jahren rief er während einer Rede, mit dem Finger auf sich selbst deutend: "Hier ist die Hoffnung! Hier!" Damals hatte ihm Erdoğan gerade seinen ersten Wahlsieg aberkennen lassen, er gewann die Neuwahl dann mit Abstand. Mittlerweile muss İmamoğlu nicht mehr auf sich deuten, er muss es nicht mehr aussprechen. Er hat sich zum Synonym gemacht, vielleicht ist das schon sein Geheimnis: Wo er ist, da ist die Demokratie.
Ein paar Tage vor der Wahl steht der Retter in der Sonne von Büyükçekmece, ganz im Westen von Istanbul. Früher mal ein Acker, heute eine Ansammlung von Hochhäusern. Er wartet neben der Bühne, um ihn herum Gedränge. Gleich sein Auftritt, zwei Minuten noch. İmamoğlu posiert für Selfies. Lächelt. Er sieht aus wie immer, und das ist noch eins seiner Geheimnisse: als würde er morgens gern zur Arbeit gehen.
Der Sieg als Ziel allein
Und, wie geht es Ihnen? "Gut", sagt İmamoğlu. "Willkommen!" Logisch beantwortet er der SZ ein paar Fragen, wobei er gleich klarmacht, dass er eher nicht für neue Parks und neue U-Bahnen zur Wiederwahl steht. Doch, schon, er hat viel bauen und renovieren und verschönern lassen. Aber das wichtigste Thema? "Dass wir gewinnen", sagt er. Der Sieg als Ziel allein.
Und falls er verliert? "Daran denke ich gar nicht." Auch nicht daran, dass Erdoğan noch ein paar undemokratische Mittel in der Hinterhand hat, wie damals, 2019, die Annullierung des Wahlsiegs? Oder wie 2022, als er den Oberbürgermeister zu einer Haftstrafe verurteilen ließ, ein Urteil, das jederzeit rechtskräftig werden könnte? "Wir haben die Probleme damals überwunden", sagt İmamoğlu. "Mit der Kraft der Gesellschaft. Wir werden sie wieder überwinden." Das klingt nach Politikersprech? Allerdings in einem Land, in dem Politik gefährlich sein kann - wenn man, wie İmamoğlu, zu mächtig wird.
Erdoğan hat es zur Chefsache gemacht, dass İmamoğlu verliert. Der Präsident will die Kommunalwahlen überall im Land gewinnen, vor allem aber das Rathaus von Istanbul. Vergangenes Wochenende lud er zur Kundgebung, fast sein ganzes Kabinett hat er nach Istanbul in den Straßenwahlkampf geschickt, selbst den Außenminister. Dagegen steht eine nach ihrer letzten Wahlniederlage zersplitterte und niedergeschlagene Opposition.
Und İmamoğlu, der gar nicht niedergeschlagen wirkt. Auf der Bühne in Büyükçekmece spricht er über die Meinungsfreiheit. Der Präsident habe versprochen, man könne ihm alles ins Gesicht sagen. Wie das damit zusammenpasse, dass neulich wieder Leute festgenommen wurden, die bei einem von Erdoğans Auftritten protestierten? Ja, sagt İmamoğlu, er wisse schon, er solle auch über Istanbul reden, nicht nur über die Demokratie. Aber wenn der Präsident seine Minister schicke, dann sei die Wahl ja wohl eine nationale Angelegenheit.
"Diese Stadt gehört nicht dir."
"Diese Stadt", sagt er, "gehört den 16 Millionen", also ihren Bewohnern, "sie gehört den 86 Millionen", also allen Türkinnen und Türken, "sie gehört nicht dir." So redet er Recep Tayyip Erdoğan an. Dafür feiern sie ihn, den Mann, der bis vor fünf Jahren einen Istanbuler Außenbezirk regierte und der so bieder aussieht, als könnte er auch für Erdoğans konservative AKP antreten.
Wie Erdoğan spricht er mit dem Publikum, erzählt den Menschen eine Geschichte. Und unterbricht seine Rede, wenn ein Mädchen bittet, zu ihm auf die Bühne zu kommen. Klar, es darf, ein zweites auch, und so ist İmamoğlu, während er den Präsidenten angreift, von zwei Mädchen umgeben, die sich an ihn schmiegen. "Trau keinem Politiker", sagt er, "den die Kinder nicht mögen." Spätestens in dem Moment strahlt die Aura des perfekten Schwiegersohns bis weit ins Erdoğan-Lager.
In den Umfragen führt er. Klarer als noch vor ein paar Wochen. Vor seinem Gegner von der AKP, dessen Namen er kaum je erwähnt: Murat Kurum, ein früherer Minister, der Fehler um Fehler macht. Kürzlich sagte Kurum, İmamoğlu könne in einem Ministerium höchstens als "Köfteci" arbeiten, also am Frikadellengrill. Eine Vorlage, die İmamoğlu gern annahm: Er respektiere das Handwerk der Köftebräter. Kurum werde sich bald "immer, wenn er Köfte isst, an diese Wahl erinnern".
Dass İmamoğlu wirklich mal ein Köfterestaurant besaß, früher, bevor er in die Politik ging, wissen nicht mehr viele. Aber der Wirt, der kurz an den Tisch kommt und die Kinder drückt, der ist er geblieben. Gewinnt er am Sonntag, hat er Erdoğan besiegt. Wieder mal.
Und dann? Ist für ihn alles drin.