Türkei:Istanbuls Oberbürgermeister Imamoğlu mit Politikverbot belegt

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Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu soll die Wahlkommission im Jahr 2019 beleidigt haben - Anhänger drücken während des Prozesses ihre Unterstützung aus. (Foto: Umit Bektas /Reuters)

Wird das Urteil bestätigt, verliert die türkische Oppositionspartei CHP einen ihrer aussichtsreichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl - und Präsident Erdoğan einen gefährlichen Konkurrenten.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Der amtierende Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu ist von einem Strafgericht zu einer Haftstrafe und einem Politikverbot verurteilt worden. Ein Istanbuler Gericht verhängte über den populären Politiker der Oppositionspartei CHP wegen der angeblichen Beleidigung der Wahlkommission im Jahr 2019 eine Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Imamoğlu kann zwar Berufung einlegen und sein Amt vorerst weiter ausüben. Sollte das Urteil aber bestätigt werden, verlöre die Oppositionspartei CHP einen ihrer größeren Hoffnungsträger: Imamoğlu ist einer der möglichen Oppositionskandidaten bei der anstehenden Präsidentenwahl.

Türkische Oppositionelle bezeichneten den Prozess als "politisch motiviert". Da der Istanbuler OB einer der schärfsten Kritiker und ein möglicher Herausforderer bei den in weniger als einem halben Jahr anstehenden Wahlen ist, ist dies durchaus denkbar. Die türkische Führung wird zwar auch im Fall Imamoğlu wie üblich auf die Unabhängigkeit der Justiz verweisen. Aber die meisten Türken wissen genau, dass die Justiz in der Ägide von Präsident Recep Tayyip Erdoğan politisiert und der Rechtsstaat massiv beschädigt worden ist.

Die Wahl zum Bürgermeister von Istanbul 2019 hatte Imamoğlu knapp gegen den Kandidaten der regierenden AKP Erdoğans gewonnen. Die Wahlkommission annullierte das Ergebnis jedoch auf Antrag der AKP und ließ die Wahl wiederholen - Imamoğlu gewann erneut. Seinen Sieg in der 16-Millionen-Metropole sehen Beobachter auch als indirekte Niederlage Erdoğans.

Präsident Erdoğan muss um seine Wiederwahl fürchten

Nur ein knappes halbes Jahr vor den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist dieses Gerichtsurteil ein schlechtes Zeichen. Es eröffnet die Perspektive eines mit hässlichen Mitteln geführten Wahlkampfs von Seiten des Regierungslagers. Erdoğan muss längst um seine Wiederwahl fürchten. Er hat in den vergangenen Monaten wegen der Wirtschaftslage und der zwischen 80 und weit über hundert Prozent liegenden Inflation stark an Rückhalt verloren. Allen Umfragen zufolge kann er die Präsidentschaftswahl zumindest im ersten Wahlgang nicht gewinnen. Auch die Aussichten seiner Regierungspartei AKP bei den Parlamentswahlen haben sich deutlich verschlechtert.

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Die Opposition hingegen, die mit einem Bündnis aus sechs Parteien antritt, hat nach Anlaufschwierigkeiten Fuß gefasst. Sie führt einen geschickten inoffiziellen, oft populistischen Wahlkampf gegen den Präsidenten. Dabei geht sie unkonventionell vor. So hat sie bisher ihren Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt bewusst noch nicht benannt: Erdoğan, der ein guter Wahlkämpfer ist, weiß nicht, wen genau er attackieren muss. Zwar gilt CHP-Chef Kemal Kilicdaroğlu als der wahrscheinliche Kandidat. Aber auch der jetzt mit Politikverbot belegte Istanbuler Oberbürgermeister gilt als möglicher Herausforderer, ebenso auch der OB von Ankara, Mansur Yawaş.

Zudem hat das Sechser-Bündnis aus der sozialdemokratisch orientierten CHP, der national-konservativen IYI-Partei und vier kleinen Parteien sich eine umfassende Verfassungsänderung auf die Fahnen geschrieben. Sie will die von Erdoğan 2016 per Referendum eingeführte Präsidialherrschaft wieder durch ein parlamentarisches Regierungssystem mit einem Ministerpräsidenten ersetzen. Zudem verspricht sie umfassende Reformen und hat dafür einen kompetenten Beraterapparat vorgestellt.

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