Türkische Opposition:Erdoğans neuer Gegner

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Özgür Özel (links) ist neuer CHP-Vorsitzender. Sein Vorgänger Kemal Kılıçdaroğlu gratuliert ihm nach der Wahl auf dem Parteikongress. (Foto: Alp Eren Kaya/Reuters)

Die größte Oppositionspartei der Türkei hat einen neuen Vorsitzenden: Özgür Özel übernimmt die CHP. Im Land wird aber mehr über ein anderes Thema diskutiert.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Die CHP, die größte Oppositionspartei der Türkei, hat einen neuen Parteichef. Özgür Özel gelang am Wochenende, was in der türkischen Politik eine Seltenheit ist: Er nahm einem amtierenden Vorsitzenden in einer demokratischen Abstimmung das Amt. Es ist das Ende der Karriere von Kemal Kılıçdaroğlu, der im Mai bei der Präsidentschaftswahl noch Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan war.

Trotz seiner Niederlage gegen Präsident Erdoğan wollte der 74 Jahre alte Kılıçdaroğlu als Parteivorsitzender weitermachen. Seit 2010 stand er an der Spitze der CHP, während dieser Zeit gewann er keine einzige landesweite Wahl - auch wenn er im Mai bei der Stichwahl gegen Erdoğan immerhin 48 Prozent der Stimmen holte. Viele in der Türkei sahen die Präsidentschaftswahl als echte Möglichkeit für einen Wechsel. Kılıçdaroğlu hätte eine historische Figur werden können, einige Wochen lang sah es so aus, als könnte er die Ära Erdoğan beenden.

Dass Kılıçdaroğlu nach Erdoğans Sieg jede Verantwortung von sich wies, dass er einen Rücktritt ablehnte, trug zur Hoffnungslosigkeit in der Türkei bei. Kılıçdaroğlu macht den Eindruck eines Funktionärs, dem es mehr um seine Parteikarriere geht als um das Land. Er sprach von Wandel in der CHP, entließ seine Berater. Er selbst aber klebte an seinem Stuhl, obwohl ihn etwa Ekrem İmamoğlu, der populäre Oberbürgermeister von Istanbul und CHP-Mitglied, offen zum Rückzug aufforderte.

Große Begeisterung? Löst Özgür Özel nicht aus

Özgür Özel, 49, galt vor dem Parteitag der CHP als Kandidat der Erneuerer, also als Gegner von Amtsinhaber Kılıçdaroğlu. Trotzdem ist er niemand, der allzu große Begeisterung auslöst. Özel wurde dieses Jahr Vorsitzender der Parlamentsfraktion, als Kılıçdaroğlu in den Präsidentschaftswahlkampf zog, vorher war er Kılıçdaroğlus Stellvertreter im Parlament. Der frühere Apotheker hat also eine klassische Politikerlaufbahn hinter sich.

Ob er bei den nächsten Wahlen gegen Erdoğan gewinnen könnte, wird noch nicht mal diskutiert. Dafür ist es zu früh, die Opposition muss nach der Niederlage im Mai erst wieder zu sich kommen. Wichtiger sind für die CHP zunächst die Kommunalwahlen im kommenden März, bei denen es um die wichtigen Rathäuser der Metropolen Istanbul und Ankara geht. Die hatte die CHP im Jahr 2019 erobert und Erdoğan damit eine seiner größten Niederlagen zugefügt.

Die Bürgermeister der beiden Städte, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, zählen zu den wenigen aus der Opposition, die es zu echter Beliebtheit gebracht haben. Sie selbst konnten aber nicht als Parteichefs kandidieren, weil sie dann ihre Rathausämter hätten aufgeben müssen. Gerade in Istanbul wäre das riskant gewesen, dort hätte das Stadtparlament den Nachfolger İmamoğlus bestimmt. Im Parlament hält Erdoğans AKP die Mehrheit. Die Opposition hätte in dem Fall also ihre Kontrolle über die größte und wichtigste Stadt des Landes verloren, und das wenige Monate vor den Kommunalwahlen.

Die Solidarität mit den Palästinensern ist in der Türkei sehr groß

İmamoğlu war sich wohl auch nicht sicher, ob die Parteikader ihn unterstützen würden. Er gilt in der CHP vielen als zu konservativ, als den gläubigen Wählern gegenüber zu offen. So verlegte er sich darauf, den Kandidaten Özel zu unterstützen - gegen Kılıçdaroğlu. Als der auf dem Parteitag im zweiten Wahlgang gewann, morgens gegen drei Uhr, war es İmamoğlu, der den Sieg verkündete. Auf der Plattform X schrieb İmamoğlu: "Jetzt ist die Türkei an der Reihe, sich zu verändern."

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Während İmamoğlu und der neue Parteichef Özel sich jetzt auf den Kommunalwahlkampf einstellen, spricht die Türkei vor allem über den Krieg im Gazastreifen. Die Solidarität mit den Palästinensern ist parteiübergreifend groß. Erdoğan hat seinen Ton gegenüber Israel verschärft, er sehe im israelischen Premier Netanjahu "keinen Gesprächspartner" mehr, sagte er. Israel begehe im Gazastreifen ein "Massaker". Die Türkei zog ihren Botschafter aus Israel zurück, zu Beratungen, wie es heißt.

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