Als Anwalt hat er sich oft Fälle ausgesucht, in denen es um eine größere Gerechtigkeit ging. Um eine schlechtere oder bessere Türkei. Can Atalays Mandanten waren die Opfer eines Grubenunglücks, es waren Familien, deren Kinder im Haus einer islamischen Sekte verbrannt waren, die Sekte hatte es mit dem Brandschutz nicht so genau genommen.
Oder eben Aktivisten, die sich 2013 in Istanbul dafür einsetzten, dass ein kleiner Park erhalten blieb. Can Atalay war der Gezi-Anwalt. Das machte ihn selbst zum Angeklagten. Zum Verurteilten. Zum Häftling.
In diesen Tagen muss Atalay aus seiner Zelle im Silivri-Gefängnis bei Istanbul verfolgen, wie die Türkinnen und Türken über seinen Fall streiten, und damit auch darüber, in was für einem Land sie leben. Ob es überhaupt noch eine Gerechtigkeit gibt in diesem Land. Irgendetwas, worauf man sich verlassen kann. Das Verfassungsgericht zum Beispiel, das für Can Atalay die Freilassung angeordnet hat.
Ein Putschist, der einen Park retten wollte
Atalays Strafmaß beträgt 18 Jahre. Dazu verurteilte ihn ein Gericht im April 2022, ihn und andere Angeklagte im Gezi-Verfahren. Manche, darunter der Mäzen Osman Kavala, bekamen lebenslänglich. Atalay habe, so das Urteil, versucht, die Regierung zu stürzen. Ein Putschist, weil er einen Park retten wollte.
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Ein Jahr später, im Frühling dieses Jahres, machte sich Atalay dann tatsächlich daran, die Regierung zu stürzen - auf demokratischem Weg, er kandidierte fürs Parlament. Aus seiner Zelle heraus. Für die "türkische Arbeiterpartei", eine kleine Oppositionskraft. In Hatay, der vom Erdbeben gezeichneten Provinz. Und Atalay wurde gewählt. Was dann geschah?
Nichts. Obwohl selbst der Parlamentspräsident, ein Mann von Erdoğans AKP, für Atalays Freilassung plädierte. Dessen Verfahren könne ja fortgesetzt werden, "sobald er seinen Eid abgeleistet hat". Doch die türkische Justiz entschied, dass die Wahl ins Parlament nichts am Urteil ändere. Die Parlamentsverwaltung nahm ihn in die Liste der Abgeordneten auf, sie wies ihm ein Büro zu, und seine Fraktionskollegen stellten ein Foto von ihm auf den Platz im Plenum, der leer blieb.
Die Monate vergingen. Dann, Ende Oktober, folgte ein Richterspruch von oberster Stelle. Das Verfassungsgericht ist eine der letzten Institutionen, die Präsident Erdoğan nicht ganz unter seine Kontrolle gebracht hat. Nun befand das Gericht, dass Can Atalay durch die Haft seiner demokratischen Rechte beraubt werde, er müsse entlassen werden. Atalays Mutter fasste nach dem Urteil ein wenig Vertrauen ins System. "Es gibt noch Richter", sagte sie. "Es gibt noch gute Menschen."
Türkei:Erdoğan weist Kritik an Kavala-Urteil scharf zurück
"Nichts für ungut, in diesem Land existieren Recht und Gesetz": Der türkische Präsident verteidigt die Entscheidung des Istanbuler Gerichts, das den Kulturmäzen zu lebenslanger Haft verurteilt hatte.
"Das ist, was man einen Putsch nennt."
Was geschah? Nichts. Can Atalay ist noch immer in Haft. Vergangene Woche verweigerte das Kassationsgericht, die höchste Instanz in Strafsachen, den Kollegen am Verfassungsgericht den Gehorsam. Die hätten ihre Kompetenz überschritten, hieß es da. Das Kassationsgericht will, dass Can Atalays Abgeordnetenmandat annulliert wird. Es erstattete sogar Strafanzeige gegen die Verfassungsrichter, die für seine Freilassung votiert hatten.
Richter, die andere Richter anzeigen. Selbst aus der regierenden AKP kam dafür Kritik. Der neue Oppositionsführer Özgür Özel sagte, die Richter hätten einen "Putsch" gegen den Rechtsstaat unternommen. Auch Ahmet Davutoğlu, früher mal Premierminister, sagte: "Das ist, was man einen Putsch nennt." Davutoğlu kündigte an, er werde seinerseits die Richter des Kassationsgerichts anzeigen.
Was tun, wenn selbst das Wort des Verfassungsgerichts nichts mehr gilt? Die Opposition verlegte sich zuletzt auf Protest, sie belässt eine Gruppe von Abgeordneten Tag und Nacht im Parlament. Für Atalay, der als Anwalt für den türkischen Rechtsstaat gekämpft hat und dessen eigener Fall jetzt davon erzählt, was für eine Farce dieser Rechtsstaat ist. Präsident Erdoğan sagte am Freitag, die "vielen Fehler" des Verfassungsgerichts hätten ihn "sehr traurig gemacht".