Thilo Sarrazin: Umstrittenes Buch:Tage des Zorns

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Auch wenn sich Sarrazin verrannt hat, stößt er eine überfällige Debatte an: Integration ist möglich, der Weg dahin weit. Wer den Rauswurf des Bundesbankers fordert, handelt unsouverän - so würde nur ein Märtyrer geschaffen.

Joachim Käppner

Der Prediger hat eine gewaltige Stimme, aber einige der einflussreichsten muslimischen Funktionäre im Land hören sie nicht gern. Sie haben ihn als "Schwachkopf" und "Idioten" bezeichnet, weil er Folgendes sagt: Der Kampf um die Integration der Muslime in Deutschland sei nicht verloren; aber er wird verlorengehen, wenn die Muslime diese Integration nicht auch als eigene Bringschuld begreifen. Wenn sie nicht "Loyalität gegenüber diesem Land" zeigen, nicht bereit sind zur Versöhnung ihrer Religion mit der Moderne.

Deutschland und der Islam - eine schwierige Beziehung. (Foto: ddp)

Derlei verkündet kein deutscher Islamophober, sondern ein Imam aus der bayerischen Provinz. Benjamin Idriz aus Penzberg will in München sogar ein bundesweites Zentrum für einen zeitgemäßen Islam errichten. Er fordert von seinen Glaubensbrüdern Dinge, die selbstverständlich sein sollten; doch wagen nur wenige deutsche Politiker, dies so deutlich zu sagen, aus Furcht, in die falsche Ecke zu geraten. Dort landet man rasch, wenn man ausspricht, was Idriz fordert.

Gebärfaule Frauen und völkisch-genetische Identitäten

Die Vernunft, die aus dessen Predigten spricht, ist Thilo Sarrazin leider abhandengekommen. Selbst wenn man es sehr gut mit ihm meint: Hier hat sich ein kluger Mann verrannt in seiner Lust an der Provokation, mit seinen Thesen über "das stille Dahinscheiden des deutschen Volkes", gebärfaule deutsche Frauen und völkisch-genetische Identitäten. Wenn er jetzt als Bramarbasierer von der Bundesbank dasteht, ist er selber schuld daran.

Aber er hat ein Problem benannt, das noch bestehen wird, wenn die Wogen der Empörung längst verebbt sind: das enorme Integrationsdefizit der muslimischen Minderheit in Deutschland, jedenfalls beklemmend großer Teile von ihr. Es ist zu befürchten, dass die Erregung über Sarrazin zur bequemen Ausflucht wird. Schon jetzt will der SPD-Vorstand den Störenfried aus der Partei ausschließen.

Rauswurf statt Dialog: Souverän ist das nicht, und ein Märtyrer würde geschaffen, dem man besser in der Sache entgegengetreten wäre; denn auch der SPD fehlen hier die Antworten.

Warum tun sich Muslime schwerer als andere Einwanderer, in Deutschland heimisch zu werden? Viele Deutsche, die sich für fortschrittlich halten, geben wie von selbst dem Staat die Schuld daran. Es ist erst wenige Monate her, da galt Kirsten Heisig in weiten Teilen des rot-roten Establishments der Hauptstadt als "Richterin Gnadenlos", ja als kaum verkappte Ausländerfeindin: Die Jugendrichterin aus dem Berliner Problemkiez Neukölln hatte das Entstehen einer Parallelwelt muslimischer Großfamilien beklagt, die vom Staat gar nicht erreicht werden wollen, mit Ausnahme von Sozialhilfe und Kindergeld.

Sie beschrieb überzeugend, wie die Behörden in einer Mischung aus Lethargie, politischer Korrektheit und Furcht darauf verzichten, das Recht und die Spielregeln dieses Landes gegen die Integrationsverweigerer durchzusetzen. Heisig, die sich im Juli das Leben nahm, hatte ein Extrembeispiel gewählt, gewiss, aber es könnte den Blick in eine düstere Zukunft erlauben, wenn sich nichts ändert.

Große islamische Verbände im Land wie Milli Görüs sind von Männern dominiert, deren Verhältnis zur freiheitlichen Gesellschaft zweifelhaft ist. Die Sehnsucht der Exilgemeinden nach Identität wird in zu vielen Moscheen von religiösen Eiferern befeuert, die von diesem Land weder etwas wissen noch etwas wissen wollen. In vielen islamischen Familien sind Frauen und Mädchen einem demütigenden Rollenbild unterworfen, das die Mehrheitsgesellschaft anderswo nicht einmal im Ansatz hinnehmen würde.

Junge männliche Muslime gehören noch in der dritten Generation zu den Bildungsverlierern und flüchten oft in primitive Heilslehren, die sie für den wahren Islam halten. Und die Entwicklung einiger Gegenden der Großstädte lässt befürchten, dass sich eines Tages wie in England und Frankreich Ghettos bilden, in denen das Leben anderen Gesetzen folgt als denen des Landes. Diese Probleme werden sich so rasch verschärfen, wie der Anteil der Muslime an der Bevölkerung steigt.

Der Weg ist weit

Schuld an all dem ist nicht der Islam. Schuld ist eine Haltung, die Religion über den freiheitlichen Staat stellt. Der Islam würde ein harmonisches Miteinander von Staat und Religion erlauben; doch der Weg dahin ist weit. Es gibt jedoch keine Alternative dazu, ihn gemeinsam mit den Muslimen in Deutschland zu gehen - ohne falsche Toleranz, aber mit gutem Willen. Sehr viele Muslime haben sich doch längst integriert; es gibt in manchen Städten Gegenstücke zu Neukölln, frühere Glasscherbenviertel, die nur die türkische oder bosnische Mittelschicht vor dem Abkippen bewahrt hat.

Integration ist nur möglich, wenn man nicht in Horrorszenarien flüchtet, sondern den Muslimen wirklich eine Chance gibt. Sie ihnen zu verweigern, ist kein Privileg des unglücklichen Herrn Sarrazin. Auch der Durchschnittsbürger mag Anhänger der Integration sein; aber nur, solange seine Kinder die Schulbank nicht mit 25 Türken und Arabern teilen. Und wenn, wie in Hamburg, der Staat die Schule zum Nukleus der Integration machen will, stimmt die Mehrheit der Wähler das Projekt nieder. Solange das so ist, helfen die schönsten Predigten nichts.

© SZ vom 31.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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