Syrienkrise:Gedankenspiele und Weltpolitik

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Mit einem Versprecher einen Militärschlag abgewendet? US-Außenminister John Kerry, hier vor dem Verteidigungsausschuss des US-Kongresses. (Foto: Bloomberg)

Gibt es die Chance auf eine diplomatische Lösung in der Syrienfrage nur, weil US-Außenminister Kerry sich verplappert hat? Fest steht, dass er plötzlich und unerwartet "off script" gesprochen hat, wie die Drehbuchschreiber sagen. Doch neben dieser Chaostheorie gibt es noch eine andere plausible Erklärung.

Von Julian Hans, Moskau, und Nicolas Richter, Washington

John Kerry gilt als brillanter Redner - wenn er rechtzeitig aufhört zu reden. Oft gelingt es ihm, sich bei aller Eloquenz selbst zu beschädigen, und auch am Montag dieser Woche bekommt der US-Außenminister scheinbar einen echten Kerry-Auftritt hin.

In London soll er bloß erklären, warum Amerika die syrischen Giftmischer mit Raketen bestrafen wolle. Stattdessen zerlegt Kerry Washingtons Drohkulisse, indem er beteuert, sein Land plane bloß einen "unglaublich kleinen" Angriff. Dann antwortet er auf die Frage, wie das Regime in Damaskus seiner Strafe noch entgehen könnte: Nun, Syrien müsse eben sofort alle Chemiewaffen abgeben. Das sei natürlich unmöglich, fügt Kerry hinzu. Aber der Satz ist in der Welt.

Aussagen wie diese, die sich allem Anschein nach völlig von der Regierungslinie gelöst haben, nennen die Amerikaner "off script". Washingtons Drehbuchschreiber sind überrascht, nein, entsetzt: Ein Ausweg für Assad ist bisher nicht vorgesehen. Das Außenministerium nennt die Worte des eigenen Chefs so etwas wie einen Witz. Eingeweihte erinnern sich womöglich an 2004, als sich Kerry, damals Kandidat für die Präsidentschaft, mit ungeschickten Bemerkungen zum Irak um das Amt redete.

Das Weiße Haus hat sich für diesen Montag die bisher größte PR-Offensive vorgenommen. Präsident Barack Obama soll Interviews mit sechs Fernsehsendern führen. Seine Sicherheitsberaterin Susan Rice wählt die Bühne einer Stiftung, um den drohenden Krieg zu erklären. Sie fordert jeden erwachsenen Amerikaner dazu auf, sich im Internet die sterbenden Giftgasopfer von Damaskus anzuschauen. Die Kinder vor allem. Wer das sehe, sagt sie, der wisse, dass das Regime Baschar al-Assads nur eine Antwort verdient habe.

Lawrow redet kurz, nur eine Minute und vierzig Sekunden

Während Rice aber droht und zürnt, schreibt man anderswo längst ein neues Drehbuch. In Moskau ist Syriens Außenminister Walid al-Muallem zu Gast. Die Russen sind seine engsten Verbündeten, sie haben Syriens Regime immer verteidigt, vor allem im UN-Sicherheitsrat. Am Morgen reden Muallem und sein russischer Kollege Sergej Lawrow vor Journalisten. Lawrow zweifelt an, dass Syriens Regierung verantwortlich sei für den Giftgas-Angriff am 21. August, der mehr als 1400 Menschen getötet haben soll. Es gebe "Fakten, die nach unserer Einschätzung belegen, dass die Ereignisse am 21. August inszeniert waren".

Lawrow und Muallem ziehen sich zurück, aber schon wenig später ruft Lawrow die Medien wieder zu sich ins Außenministerium am Smolenskij Boulevard. In der Zwischenzeit hat Kerry gesagt, was er gesagt hat, und Lawrow sieht jetzt eine glänzende Gelegenheit, um sich aus der Rolle des isolierten Syrien-Beschützers zu befreien. Es eilt. Lawrow redet kurz, nur eine Minute und vierzig Sekunden: Wenn sich ein US-Angriff gegen Syrien so abwenden lasse, dann sei Russland bereit, Kerrys Vorschlag aufzunehmen. Syrien soll seine Chemiewaffen aushändigen. "Wir werden uns unverzüglich an die Arbeit machen." Dann steht er auf und geht. Keine Fragen. Den Rest des Tages kann Lawrow in Ruhe beobachten, wie sein Coup wirkt.

Er wirkt sofort. Muallem lobt in seinem Moskauer Hotel die "Weisheit der russischen Führung" und erklärt sich grundsätzlich bereit, das Giftgas-Arsenal abzustoßen. Bald folgen die Vereinten Nationen, die Franzosen, die Briten und etliche andere. Alle sehen in der bestechenden Idee die Lösung für einen Konflikt, dessen Eskalation niemand will.

In Washington scheint es erst einmal, als gerate nun die ganze Planung durcheinander. Es ist Montag, Obama will sich erst am Dienstag in einer seiner seltenen Fernsehansprachen aus dem Weißen Haus an sein Volk wenden. Er möchte das Parlament dazu überreden, ihm einen Militärschlag gegen Syrien zu erlauben. Nun redet alle Welt vom Kompromiss. Obama weiß, dass er im neuen Drehbuch nicht die alte Rolle des kriegsentschlossenen Oberbefehlshabers spielen kann. In den TV-Interviews zeigt er sich zwar skeptisch über die wahren Absichten in Moskau und Damaskus, aber er wirkt auch ernsthaft interessiert an der neuen Idee. "Es ist möglich, wenn es ernst gemeint ist", sagt der Präsident.

In Wahrheit könnte sich an diesem Tag nicht nur ein Ausweg für Assad auftun, sondern auch einer für Obama. Der Präsident steht vor demütigenden Niederlagen im Parlament. Die Umfragen und die Festlegungen der Abgeordneten lassen erwarten, dass der Kongress Nein sagt zu Obamas Angriffsplan. Er wäre dann einer, der bereit war, in den Krieg zu ziehen - und dann, auf halbem Weg, zurückgepfiffen wurde. Die Russen haben Obama scheinbar den Notausgang gewiesen. Es sieht so aus, als sei Kerry mit seinen Gedankenspielen versehentlich durch die richtige Tür gestolpert.

Erpressung mit vorgehaltener Pistole

Neben dieser Zufallstheorie - oder Chaostheorie - gibt es in Washington noch eine zweite: In Wahrheit haben Amerikaner und Russen insgeheim schon länger an diesem Plan gearbeitet und ihn dann am Montag geschickt in die Welt gesetzt. Demnach hätten sich Obama und Russlands Präsident Wladimir Putin beim Gipfel der G 20 in Sankt Petersburg vergangene Woche auf die Idee geeinigt, die es allen Seiten erlaubt, das Gesicht zu wahren, ja sich sogar zu profilieren.

Auch das russische Außenministerium lässt jetzt durchblicken, dass die Idee im Gespräch zwischen Moskau und Washington entstanden sei. "Der Vorschlag, die syrischen Chemiewaffen unter internationale Kontrolle zu stellen, ist keine reine russische Initiative", sagt Lawrow. Sie sei "aus den Kontakten erwachsen, die wir mit den amerikanischen Kollegen hatten" - und aus der Erklärung von John Kerry. "Wir haben die Gelegenheit genutzt, dass der syrische Außenminister in Moskau war, um ihm diesen Vorschlag zu unterbreiten."

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in der russischen Staatsduma, Alexej Puschkow, sagt am Dienstag, Syrien hätte dem Vorschlag vermutlich nicht zugestimmt, wenn er aus den Vereinigten Staaten gekommen wäre. "Wenn die USA Syrien aufgefordert hätten, die Chemiewaffen abzugeben, dann hätte das wie eine Erpressung mit vorgehaltener Pistole ausgesehen", sagt Puschkow.

Obama wiederum merkt an, dass auch sein Beitrag entscheidend war für die mögliche Lösung: Hätten die USA nicht mit ihren Raketen gedroht, hätte Assad nie über sein Giftgas verhandelt.

© SZ vom 11.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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