Vor Berliner Synagoge:Unterschätzten die Behörden einen möglichen Anschlagsversuch?

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Ist jüdisches Leben in Deutschland ausreichend geschützt? Ein Vorfall vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin lässt daran Zweifel aufkommen. (Foto: Christoph Soeder/dpa)
  • Fünf Tage vor dem antisemitisch motivierten Terroranschlag in Halle tauchte ein Mann mit einem Messer vor der Neuen Synagoge in Berlin auf.
  • Die Polizei nahm ihn zunächst fest, ließ ihn jedoch etwa 12 Stunden später wieder frei, da sie keine unmittelbare Gefahr von ihm ausgehend sahen.
  • Inzwischen gibt es Anzeichen dafür, dass sich die Behörden irrten.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke, Berlin

Wann immer man in diesen Tagen mit Vertretern jüdischer Gemeinden über ihre Ängste und Sorgen spricht, geht es nicht nur um Halle. Es geht stets auch um einen anderen, einen zweiten Vorfall, der sich bereits fünf Tage zuvor ereignete, bevor in Halle der Rechtsextremist Stephan B. versuchte, ein Massaker in der Synagoge anzurichten.

Es war der 4. Oktober, ein Freitagabend. Vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin, einem historischen Bau mit goldverzierter Kuppel, stieg ein junger Mann über die Absperrung, das ist eine dicke Metallkette, die etwa auf Kniehöhe hängt. Er trat auf die zwei Polizisten zu, die dort Wache hielten. "Angesicht zu Angesicht", wie einer der Polizisten später zu Protokoll gab. Der Mann kam so nahe, dass man ihn wegstoßen musste. Dann griff er ruckartig in seine Jacke, holte ein Survivalmesser heraus, 20 Zentimeter lang, mit einer komplett schwarzen Klinge, die spitz zulief und an der Seite gezackt war. "Er hat es hochgeworfen, umgedreht, an der Klinge gehalten", so erinnert sich einer der Polizisten, und der Mann habe auch nicht reagiert, als sie ihn mit vorgehaltener Pistole aufforderten, das Messer fallen zu lassen - minutenlang. Er habe nur etwas von "Israel" gemurmelt und "Allahu Akbar".

Der Vorfall ging glimpflich aus, der Mann wurde mit Pfefferspray überwältigt, niemand wurde verletzt. Aber schon kurz danach wurde der Täter, der 23-jährige Syrer Mohamad M., auch wieder freigelassen. Und so fragen sich seither Juden, was eigentlich passieren muss, damit der Staat Härte demonstriert. Von einem missglückten Terroranschlag spricht die Gemeinde, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, nennt das Verhalten der Berliner Behörden "frappierend". Der Fall hat die Sorge hinterlassen, dass der Staat in diesen Tagen wieder einmal versichert, alles zu tun, um jüdisches Leben zu schützen - aber sich wenig bemüht.

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Gegen 17.30 Uhr nahm man den Syrer fest, gegen 5 Uhr morgens ließ man ihn schon wieder gehen: Der Streit um diesen Vorgang hält bis heute an, in einem ungewöhnlichen Schritt hat sich die Staatsanwaltschaft öffentlich verteidigt, in Berliner Polizeikreisen wird gern darauf verwiesen, dass der Täter immerhin in die Psychiatrie eingewiesen worden sei. Gefahr gebannt, sollte dies signalisieren.

Seltsam bleibt der Fall trotzdem. Denn es waren gar nicht die Behörden, die dafür sorgten, dass Mohamad M. in eine Psychiatrie kam. Wie sich herausstellt, überredete erst sein deutscher Mitbewohner Mohamad M. dazu, sich in eine Klinik zu begeben - freiwillig. Da war es schon Sonntag, 6. Oktober. Und inzwischen hat Mohamad M. diese Klinik nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung auch schon wieder verlassen, niemand hat ihn daran gehindert. Er ist frei.

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Rekonstruiert man die Ereignisse, bleiben Fragen. In Berlin kann die Polizei eine Person mit richterlicher Zustimmung zur Gefahrenabwehr bis zu vier Tage lang in Haft behalten. Das beantragte niemand. Nicht nur die Spezialisten des Landeskriminalamts waren mit dem Fall befasst, auch ein hochrangiger Jurist blieb in dieser Nacht wach, der Antiterror-Ermittler Dirk Feuerberg ist Stellvertreter der Generalstaatsanwältin. Sie stellten auch keinen Antrag auf Untersuchungshaft. Mohamad M. habe nicht den Tatbestand der Bedrohung erfüllt, befanden sie. Dabei hatten sich die Polizisten vor der Synagoge zumindest so bedroht gefühlt, dass sie ihre Dienstwaffen auf ihn gerichtet hatten. Auch hatten sie Verstärkung gerufen, zu groß erschien ihnen die Gefahr, dass der Mann Menschen gefährlich verletzen könnte.

In Haft kam Mohamad M. den Polizisten ruhig vor, mit Islamismus habe er nichts zu tun, soll er gesagt haben. Er habe auch nichts gegen Juden. Von seiner Tat distanzierte er sich aber mit keinem Wort, er zeigte auch kein Bedauern. Er wisse schlicht nicht, weshalb er das getan habe. So zweifelhaft man solche Worte finden kann, die Ermittler zogen vorerst den Schluss, dass von M. keine unmittelbare Gefahr mehr ausgehe. In seiner Wohnung hatten sie keine Waffen oder Propagandamaterialien gefunden; seine Handys wurden beschlagnahmt.

Die Ermittler diskutierten noch immer, was der wahre Hintergrund von Mohamad M.s Tat war, als sie ihn am Samstagmorgen freiließen - wenige Stunden, bevor in den Synagogen wieder die Gläubigen zusammenkommen würden, zum Morgengebet. Angesichts angeblich fehlender Anzeichen für eine psychische Erkrankung versuchten Polizei und Staatsanwaltschaft auch gar nicht erst, M. in eine Klinik einweisen zu lassen.

Inzwischen gibt es Anzeichen, dass dies ein Irrtum war, Mohamad M. soll schon seit Monaten psychisch auffällig gewesen sein. Laut seinem deutschen Mitbewohner war er als Jugendlicher in Syrien Opfer von Scheinerschießungen, einmal hätten Sicherheitskräfte des Assad-Regimes ihm eine Waffe an den Kopf gehalten und abgedrückt. Sie war nicht geladen. Ein andermal sei nur knapp an seinem Kopf vorbeigeschossen worden. Schon länger soll Mohamad M. deshalb psychologische Hilfe gesucht haben, bei zwei Gelegenheiten in den vergangenen Wochen war er von Berliner Kliniken abgewiesen worden.

Zuletzt soll er, so glauben die Ermittler mittlerweile, Drogen genommen haben, erst Cannabis, dann allerlei anderes. Er zog zu seinen Eltern nach Berlin-Schöneweide. Um ihn von Drogen fernzuhalten, schrieben sie ihm vor, dass er das Haus nur einmal am Tag verlassen dürfe: für einen Spaziergang von 30 Minuten. Von diesem Spaziergang kehrte er am 4. Oktober nicht zurück. Stattdessen tauchte er vor der Synagoge auf, mit dem Messer.

Woher hatte er das Messer? Das bleibt rätselhaft, weder M.s Eltern noch sein deutscher Mitbewohner wollen das Messer je gesehen haben, womöglich hat er es in einem Camping-Geschäft gekauft, das in der Nähe seiner Wohnung liegt. Oder gibt es womöglich noch einen unbekannten Täter im Hintergrund, jemanden, der sich den labilen Zustand von Mohamad M. zunutze machte und ihn zur Synagoge schickte? Die Sorge vor einem solchen Szenario ist seit Langem groß, die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt deshalb auch in diese Richtung.

Von Mohamad M. selbst gibt es dazu keine Aussagen, sein Anwalt Klemens Fritsch rät ihm zu schweigen.

© SZ vom 24.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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