Sven Giegold im Gespräch:"Macrons soziales Europa hat sich bislang als Etikettenschwindel entpuppt"

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Lücke zwischen sozialem Europa und der Wirklichkeit: Emmanuel Macron beim Wahlkampf in einer Fabrik. (Foto: dpa)

Den Karlspreis hat Frankreichs Präsident trotzdem verdient, findet der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold. Ein Gespräch über Deutschland als Bremsklotz, die Einheit Europas und den Kampf gegen den Populismus.

Interview von Stefan Braun, Berlin

SZ: Am heutigen Donnerstag erhält Emmanuel Macron den Aachener Karlspreis. Feiern sie ihn mit?

Sven Giegold: Ja, Macron ist ein verdienter Träger des Karlspreises. Es ist schließlich ein Preis für Persönlichkeiten, die sich um die Einheit Europas verdient gemacht haben. Ich möchte mir nicht ausmalen, wo Europa heute stehen würde, hätte Macron die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gegen Le Pen nicht gewonnen. Die Einheit Europas wäre sehr ernsthaft in Gefahr, wenn nicht sogar schon Geschichte.

Ist Macron der Politiker der Stunde für Europa?

Nach langer Zeit des Kleinmuts hat Macron Europa in die Offensive gebracht. Er erreicht mit dem Thema Europa nicht nur die Köpfe der Menschen, sondern auch die Herzen. Während die Europa-Befürworter im Brexit-Referendum mit einer nüchternen "Kosten-Nutzen-Rechnung" vergebens um Unterstützung warben, triumphierte Macron mit einer pro-europäischen Emotion, einer Aufbruchsstimmung zu einem demokratischeren und sozialeren Europa, einer Leidenschaft für die gemeinsame Stärke - und zwar als dezidiert positiver Gegenentwurf zu den destruktiven nationalistischen Spaltungskräfte. Kurzum: Macron erzeugt Leidenschaft für Europa. Das rechne ich ihm hoch an.

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Macron wird jetzt für seine Europapolitik mit dem Karlspreis ausgezeichnet. Dabei beginnt der Streit über seine Vorschläge erst - und das gerade mit Berlin.

Von Stefan Kornelius

In Deutschland erscheint er wie eine moderne und mutige Alternative zur deutschen Kanzlerin. Sehen Sie das genauso?

Frankreich hat zuletzt die weitreichendsten Reformvorschläge für die Eurozone und die Europäische Union insgesamt vorgelegt. Von diesem europäischen Mut könnte sich Angela Merkel durchaus etwas abschneiden. Es ist doch grotesk: Deutschland ist größter Profiteur, aber derzeit auch größter Bremsklotz der Eurozone.

Was meinen Sie damit?

Fast wöchentlich wird die Liste der Reformvorschläge länger, die die Bundesregierung in Brüssel blockiert: Europäischer Währungsfonds, EU-Finanzminister, europäische Einlagensicherung, Eurozonen-Haushalt, transnationale Listen zur Europawahl und Steuertransparenz für Großunternehmen. Eine Ironie, dass gerade Merkel eine politische Rede in Aachen beim Karlspreis in Aachen halten wird. Ich werde im Ratshaus gespannt zuhören, ob sie Macron endlich einen konstruktiven Vorschlag macht, wie Deutschland Europa voranbringen will. Denn nicht nur bei den Reformen ist die Bundesregierung für Macron keine Hilfe, auch vom gewaltigen Überschuss in der Leistungsbilanz Deutschlands ist Frankreich unmittelbar betroffen.

Deutschland als Problem Europas?

Deutsche Produkte ersetzen die französische Produktion, folglich gehen Jobs verloren. Den massiven Schaden, den die deutsche Wirtschaftspolitik in fast ganz Europa damit anrichtet, will niemand in der Bundesregierung sehen. Dabei wären höhere Investitionen und höhere Löhne gerade bei den vielen prekär Beschäftigten auch im Interesse Deutschlands und senken nebenbei den exzessiven Exportüberschuss.

Im Wahlkampf in Frankreich hat er vermeintlich Unmögliches geschafft: Er hat mit einem pro-europäischen Kurs gewonnen. Ist er ein Vorbild im Kampf gegen rechte Populisten?

Was man von Macron im Kampf gegen den Rechtspopulismus lernen kann, ist dass man einen positiven Gegenentwurf braucht. Es nützt nur den Rechtspopulisten selbst, wenn man ihre Positionen übernimmt und in gemäßigterem Ton vorträgt, wie es FDP und CDU/CSU zunehmend machen. Am Ende wird das Original gewählt. Die politische Debatte ist bei manchen Themen soweit nach rechts gerückt, dass nur eine klare Haltung von links die Balance wiederherstellen kann.

Geht es konkreter?

Wir müssen wieder unmissverständlich sagen: Wir brauchen und wollen Europa. Denn nur ein geeintes Europa kann notleidenden Flüchtlingen Schutz gewähren und Fluchtursachen mildern. Nur gemeinsam können wir Großunternehmen zu ihrem fairen Steuerbeitrag zwingen und dem Datenschutz global zum Durchbruch verhelfen. Das ist noch nicht alles Realität, aber immerhin kann Europa das schaffen. Wer Renationalisierung predigt, hat schon aufgegeben, den globalisierten Kapitalismus demokratisch zu ordnen. Kurzum: Deutungshoheit kann man nur mit einem Deutungs- und Handlungsangebot zurückgewinnen.

In Frankreich muss er inzwischen gegen große Widerstände ankämpfen, weil viele seine Reformen als unsozial kritisieren. Passt das zum Bild, das im Rest Europas über ihn vorherrscht?

Die Bürgerinnen und Bürger der anderen Länder Europas müssen nicht die Folgen von Macrons innenpolitischen Reformen ertragen, deshalb hat er auf der europäischen Bühne momentan bessere Karten. Die Kritik in Frankreich an seinen Reformen ist zum Teil sehr berechtigt. Die wohlklingenden Reden von Macron nützen doch nur dann, wenn auch entsprechende Taten folgen. Hier klafft gerade in Macrons Sozialpolitik eine eklatante Lücke zwischen dem Anspruch eines sozialeren Europas und der Wirklichkeit von seiner Reformagenda. Besonders bitter ist, dass er entgegen seiner humanistischen Positionen zur Flüchtlingspolitik mit brutalen Mitteln gegen Flüchtlinge vorgeht, etwa wenn ihre Zelte und Schlafsäcke zerstört werden. Auch eine grundlegende Veränderung der unseligen Politik Frankreichs in den ehemaligen afrikanischen Kolonien kann ich nicht erkennen. Am Umgang mit den Schwächsten jedoch erkennt man die wirkliche soziale Haltung.

Auch Macron hat im Wahlkampf davon gelebt, nicht zum klassischen politischen Establishment zu gehören. Dabei ist er das, was man Elite-Elite nennen könnte. Ist er das, was viele auch in Deutschland in ihm sehen wollen: ein sozialer Europäer?

Macrons soziales Europa hat sich bisher als Etikettenschwindel entpuppt. In Frankreich verfolgt er eine neoliberale Reformagenda. Gewiss sind das französische Bildungssystem, die Verwaltung und Teile des Sozialsystems reformbedürftig. Doch statt allen Teilen der französischen Gesellschaft für diese Erneuerungsprozesse auf faire Weise etwas abzuverlangen, hat Macron bisher eine Art französische "Agenda 2010" durchgesetzt. Das heißt vor allem Kürzungen bei den Schwächsten, während die Reichsten mit der Abschmelzung von Vermögenssteuer und der Abschaffung der Wegzugsteuer sogar profitieren. Kurzum: Die Anpassungen in der Gesellschaft werden, wie auch in Deutschland unter Gerhard Schröder, in erster Linie nach unten gemacht, statt allen gemäß ihrer Stärke einen Anteil abzufordern. Und auch von den Versprechen von einem neuen demokratischen Regierungsstil und mehr politischer Partizipation in seiner Bewegung En Marche ist nicht viel geblieben. Die eigentlichen Entscheidungen werden von ihm und einer kleinen Beratergruppe getroffen.

Viele Grüne werben trotzdem bis heute dafür, Macron zu unterstützen, um Europa zu retten. Warum sind sie skeptischer?

Natürlich erscheinen Macrons europapolitische Forderungen im Vergleich zum lähmenden Stilstand der GroKo attraktiv. Es ist unser Job als proeuropäische Opposition in Deutschland, die Bundesregierung mit Macron zu treiben. Aber ich rede viel mit unseren französischen Partnern. Die kritische Zivilgesellschaft und die Grünen in Frankreich sehen Macron viel skeptischer als wir in Deutschland. Macron selbst spricht gerne vom "l'Europe qui protegé" - vom Europa, das schützt. Leider bewirken einige seiner Reformen genau das Gegenteil: Sie erzeugen mehr soziale Ungleichheit und Unsicherheit, vor allem für die Schwächsten des Landes.

Welche Konsequenzen hat das?

Damit macht Macron nicht nur seine eigene Politik, sondern auch Europa angreifbar: Wenn Europa es mittelfristig nicht schafft, jenen Schutz vor den negativen sozialen Auswirkungen der Globalisierung und Digitalisierung zu leisten, den der Nationalstaat allein schon lange nicht mehr bieten kann, wird das Teilen nationaler Souveränität auf der europäische Ebene immer schwerer zu verteidigen. Schon jetzt ist Macron in Frankreich gehörig unter Druck. "Wenn das dein soziales Europa ist, da kann es uns gestohlen bleiben", schallt es immer lauter aus linken Organisationen, dass sich in ihren anti-europäischen Positionen kaum noch vom ganz rechten Spektrum unterscheidet.

In einem Jahr sind Europawahlen. Was muss passieren, damit diese Wahlen für liberale, weltoffene, sozial denkende Demokraten nicht in einer Katastrophe enden?

Europa braucht, ganz im Sinne des Karlpreises, Einheit. Und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits bei den EU-Reformen, die uns für die nächste Krise wappnen und Europa demokratischer machen. Wir reden schon seit Jahren über die Reformen, aber dank der Blockade der Bundesregierung könnten wir zur Europawahl ohne Ergebnisse dastehen. Das wäre die beste Wahlkampfhilfe für die Europafeinde. Andererseits brauchen wir mehr Einheit im Sinne von sozialer Gleichheit. Wenn die große soziale Kluft in und zwischen den europäischen Gesellschaften bleibt, wird es weiterhin einen großen Anteil von Wählerinnen und Wählern geben, die sagen: Euer Europa hat mir nichts gebracht. Wir brauchen ein soziales Europa, das die soziale Sicherheit erhöht und Abstiegsängste mindert.

Wie wollen Sie das erreichen?

Dazu brauchen wir europäische Investitionen, die auch die Menschen in den Verliererregionen erreichen. Zum Beispiel Erasmus für alle Jugendlichen, Unterstützung für Start-ups durch die Europäische Investitionsbank und eine flächendeckende digitale Infrastruktur, gerade in den Orten, wo sich das marktwirtschaftlich nicht rechnet. Zu finanzieren wäre das durch einen gemeinsamen Zukunftsfonds, der sich aus einem Teil der Erträge eines gemeinsamen Kampfes gegen Steuerkriminalität und Steuervermeidung speist.

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