Stuttgart 21:Zehn Jahre Bauarbeiten, zehn Jahre Streit

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Viel Platz, viel Grün und dazwischen verglaste Lichtöffnungen für die Fahrgäste in der Tiefe: So stellen sich die Planer den neuen Stuttgarter Bahnhof vor. (Foto: plan b/Atelier Peter Wels/ingenhoven architects)

Proteste und Prozesse konnten das Großprojekt nicht aufhalten. Die politischen Machtverhältnisse in Baden-Württemberg aber schon. Nun korrigiert die Bahn die Kostenschätzung für den Bahnhof nach oben.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Der Umbruch im Land bahnt sich schon früh an. Als die Bauarbeiten für "Stuttgart 21" am 2. Februar 2010 mit einem Festakt starten, muss die Polizei die Gäste schützen. Kurz darauf eskaliert der Kampf um das umstrittene Milliardenprojekt. Brave Schwaben werden zu wütenden Demonstranten, der Unmut der üblichen Verdächtigen wächst sich aus zum Massenprotest, der die Regierenden in Stadt und Land mit hinwegfegt. Wie sieht es zehn Jahre später aus? Eine Zwischenbilanz.

Wie hat "Stuttgart 21" das Land verändert?

Baden-Württemberg war einst so schwarz wie Bayern. Seit 1953 stellte hier durchgehend die CDU den Ministerpräsidenten, der Landesverband brachte Bundeskanzler (Kurt Georg Kiesinger), etliche Minister und als Kanzler gehandelte Personen hervor wie Lothar Späth. "Stuttgart 21" (S21) ist einer der Gründe, warum die CDU 2011 nach fast sechs Jahrzehnten an der Regierung die Macht an die Grünen abgeben musste. Erst im Land, dann auch noch im Stuttgarter Rathaus. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hatte mit seiner harten Linie gegen Demonstranten Wähler verprellt. Die CDU wurde damals von vielen als arrogant und abgehoben wahrgenommen. Von diesem Trauma hat sich die Partei bis heute nicht erholt. Noch immer rangieren die Grünen in Umfragen mit 30 Prozent vor der auf 27 Prozent geschrumpften CDU. Susanne Eisenmann, CDU-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2021, versucht deshalb ausdrücklich, einen Neuanfang zu verkörpern. "Fenster auf und durchlüften", hat sie bei ihrer Nominierung gefordert. Sie betont, dass auch sie für eine Politik des Zuhörens stehen will, ein Begriff, den die Grünen zur Abgrenzung gegen Mappus verwendet haben. Die Grünen konnten nach dem Wahlsieg 2011 ihren ersten Ministerpräsidenten überhaupt stellen, Winfried Kretschmann. Die Grünen-Ergebnisse gelten der Partei als Beleg dafür, dass man Volkspartei kann.

Der Politik-Stil hat sich ebenfalls gewandelt. Sowohl Stadt als auch Land haben heute Bürgerbeauftragte, um schneller von Sorgen und Nöten der Bürger zu erfahren. Und bei Großprojekten setzen sie verschiedene Formate zur Bürgerbeteiligung ein. Dem Instrument Volksabstimmung begegnen die Grünen seit S21 dagegen mit Vorsicht. Sie haben nach dem Regierungswechsel 2011 landesweit über das Projekt abstimmen lassen und verloren. Fast 59 Prozent der Bürger votieren damals für das Projekt.

Was wurde aus den Protesten?

Über den Festakt am 2. Februar 2010 hatte die SZ notiert: "Die Stimmung in Stuttgart war fast so, als würde ein neues Atomendlager mitten in der Innenstadt eingeweiht." Danach wächst die Zahl der Demonstranten stetig. Die Gegner halten S21 für eine irrwitzige Fehlinvestition. Sie befürchten, dass die acht Bahnsteige des Durchgangsbahnhofs nicht ausreichen und halten ihn wegen der Tieferlegung und den vielen Tunneln für brandgefährlich. Nach dem 30. September wird der Protest gegen "Stuttgart 21" dann zum Massenphänomen. An diesem Tag, der als "Schwarzer Donnerstag" in die Stadtgeschichte eingeht, wollen mehr als tausend Demonstranten verhindern, dass im Schlossgarten die ersten Bäume fallen. Die Polizei soll die Baustelle sichern, doch der Einsatz läuft aus dem Ruder, als die Beamten Reizgas und Wasserwerfer einsetzen und etliche Menschen verletzen. Danach gehen selbst Bürger auf die Straße, die noch nie in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen haben. Stuttgart wird zur Stadt des Bürgerprotests.

"Schwarzer Donnerstag": Im September 2010 wurden die Proteste gegen das Neubauprojekt zu einem Massenphänomen. Die Polizei ging mit Wasserwerfern und Reizgas brutal gegen die Demonstranten vor. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Heute treffen sich S21-Gegner noch immer jede Woche auf dem Schlossplatz und rufen sich das Motto "Oben bleiben" zu - am kommenden Montag zum 500. Mal. Doch statt Zehntausenden stehen dort nur noch zwei- bis dreihundert Menschen. Und sie repräsentieren längst nicht mehr das breite gesellschaftliche Bündnis, das den Bau vor zehn Jahren verhindern wollte. Trotz des Baufortschritts halten sie es nicht für zu spät, die Arbeiten einzustellen. Ihr Protest gilt dabei nur "Stuttgart 21", nicht der Trasse nach Ulm. Über die Baugrube würden sie gerne wieder die Gleise zum Kopfbahnhof legen, drunter könnte ein Busbahnhof entstehen. Und in den schon gebohrten Tunneln würden sie Elektrobusse im Nahverkehr einsetzen.

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Die meisten Stuttgarter haben sich aber damit abgefunden, dass "Stuttgart 21" gebaut wird. Nach der Volksabstimmung war die Sache für sie entschieden, jetzt hoffen sie das Beste. Sie sind zwar genervt von den vielen Baustellen, interessieren sich aber immer stärker für das, was da entsteht. Die Baugruben sind zur Besucherattraktion geworden. Zu den drei "Tagen der offenen Baustelle" Anfang Januar kamen 64 000 Besucher. Im vergangenen Jahr haben etwa 1200 Gruppen an Führungen zur Baustelle teilgenommen.

Wie verhalten sich die Grünen?

In Oppositionszeiten waren die Grünen lautstarke Gegner des Tiefbahnhofs. Jetzt müssen ausgerechnet Winfried Kretschmann und sein Verkehrsminister Winfried Hermann (beide Grüne) das Ganze umsetzen, nach dem Ergebnis der Volksentscheids sehen sie sich dazu verpflichtet. Die Grünen sitzen im Lenkungskreis und müssen das Projekt begleiten. Das erledigt die Landesregierung konstruktiv, aber ohne Enthusiasmus. Vor wenigen Wochen, am 8. Januar 2020, war Kretschmann zum ersten Mal überhaupt auf der Bahnhofsbaustelle, und das auch nur, weil er vorher mit Bahn-Vorstand Ronald Pofalla einen ICE getauft hatte. Verkehrsminister Hermann hält die Schnellstrecke nach Ulm für eine sinnvolle Sache, betont aber beim Durchgangsbahnhof immer wieder gerne: "Wenn ich je die Einweihungsrede halte, werde ich trotzdem sagen, dass das eine Fehlinvestition war." Er hätte lieber in den Kopfbahnhof und Verbesserungen in die alten Schienenwege investiert.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (rechts) hat die Baustelle immer gemieden, Anfang Januar zeigte er sich erstmals mit Bahnvorstand Ronald Pofalla vor einem der Lichtaugen der neuen Bahnhofshalle. (Foto: Bahnprojekt Stuttgart-Ulm)

Wann wird der Bahnhof fertig, und was wird er kosten?

Viele denken bei "Stuttgart 21" als erstes an den neuen, unterirdischen Durchgangsbahnhof. Der ist aber nur ein Teil des gigantischen Neubauprojekts, wenn auch kein unbedeutender. Die Bahn räumt auf Anfrage der SZ erstmals ein, dass die von Architekt Christoph Ingenhoven entworfene Station mehr als eine Milliarde Euro kosten wird. Sie nennt die Zahl 1,2 Milliarden Euro dabei nur indirekt und spricht lieber vorsichtig von "etwa 15 Prozent des Finanzierungsrahmens" für S21.

In der Vergangenheit hat die Bahn ihre Kostenschätzungen für die komplett neue Bahnverbindung zwischen Stuttgart und Ulm immer wieder nach oben korrigieren müssen, zuletzt Anfang 2018. Heute versichert sie: Das war wirklich das allerletzte Mal. Bei den Prognosen muss man zwei Abschnitte getrennt betrachten: zum einen die Bahntrasse entlang der A 8 zwischen Ulm und Wendlingen. Sie soll 3,7 Milliarden kosten und Ende 2022 in Betrieb gehen. Zweitens den Abschnitt "Stuttgart 21", der sich direkt daran anschließt. Er besteht neben dem Tiefbahnhof aus einem neuen Schienenring, der die Station über Tunnel von zwei Seiten erschließt, aus einem Abstellbahnhof in Untertürkheim und der Flughafenanbindung. Für "Stuttgart 21" sind derzeit 8,2 Milliarden Euro eingeplant. Die Eröffnung ist mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2025 vorgesehen. Es deutet sich allerdings an, dass einige Teile später ans Netz gehen könnten, etwa der Flughafenbahnhof, mit dem noch gar nicht begonnen wurde.

Der Bundesrechnungshof hat die Kosten für S21 vor einigen Jahren auf zehn Milliarden Euro geschätzt und bezweifelt bis heute, dass die Bahn ihre Prognose einhalten kann. Die Bahn selbst sieht dagegen genug Spielraum in ihrem Finanzierungsrahmen. Ende 2019 waren laut Bahn 65 Prozent der geplanten 8,2 Milliarden Euro ausgegeben oder vertraglich gebunden.

Warum dauert das so lange?

Es ist schon eine ziemlich verwegene Idee, in einen eng besiedelten Talkessel eine neue Bahntrasse implantieren zu wollen. Wohngebiete müssen untertunnelt, Straßen und Kanäle über- oder unterquert werden. Zudem hat die Bahn für die Abschnitte, aus denen sich "Stuttgart 21" zusammensetzt, einzeln Genehmigungsverfahren beantragt. Mehrere Male wurde die Bahn dabei zu Umplanungen gezwungen - etwa beim Brand- und Artenschutz. Vor allem aber haben politische Entscheidungsprozesse und Finanzierungsprobleme das Projekt verzögert.

Rückblick: Die Idee, eine Alternative zur historischen Bahnstrecke zwischen Stuttgart und Ulm zu bauen, setzt sich 1995 trotz Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit durch. Damals geht es zügig los mit einem Raumordnungsverfahren und dem Architektenwettbewerb. Doch schon 1998 stocken die Planungen. Die damalige rot-grüne Bundesregierung sieht das Projekt ebenso kritisch wie der neue Bahnchef, weshalb das Land und die Stadt Stuttgart (beide damals noch fest in CDU-Hand) 1999 anbieten, einen Teil der Kosten zu übernehmen - ein bisher einmaliger Schritt. Im März 2001 genehmigt der Aufsichtsrat der Bahn "Stuttgart 21", stellt das Projekt aber 2007, nachdem die ersten Genehmigungen vorliegen, erneut infrage. Im Februar 2010 beginnt die Bahn schließlich damit, die Bahnsteige im alten Kopfbahnhof um 150 Meter nach vorne zu verlegen, um Platz für die Baugrube zu machen. Kurz darauf folgen Massendemonstrationen, Schlichtungsgespräche, der Regierungswechsel und eine Volksabstimmung. Erst 2013 wird mit dem Bau des ersten Tunnels für S21 begonnen, 2014 heben Bagger am Bahnhof eine erste Grube aus, im September 2016 wird der Grundstein gelegt. Ende 2019 nun sind 84 Prozent der Tunnel für S21 gegraben, der Bau des Bahnhofsdachs hat begonnen. Zwischen Ulm und Wendlingen, wo seit 2012 gearbeitet wird, sind 99 Prozent der Tunnel gebohrt.

Warum wird das Projekt so teuer?

Zum einen wegen der langen Verzögerungen und steigender Baupreise. Die Bahn nennt außerdem die "deutlich aufwendigeren Verfahren beim Tunnelbau im Anhydrit". Das ist eine Mineralart, die bei Kontakt mit Wasser aufquillt und die im Raum Stuttgart recht häufig vorkommt. Gegner haben allerdings von vorneherein vor dem Anhydrit gewarnt, man hätte dies also einkalkulieren können. Mehrkosten sind auch entstanden, weil sich gesetzliche Auflagen änderten, etwa beim Brandschutz.

Den Bahnhof selbst hätte man günstiger bauen können, doch die Projektträger entschieden sich für einen architektonischen Entwurf, der Ingenieure vor extreme Herausforderungen stellt. Statt gerader Säulen, Ecken und Kanten lässt Architekt Ingenhoven organisch geformte Betonkelche entstehen, die in ein begehbares Dach mit runden Lichtöffnungen übergehen. 28 dieser Pfeiler soll es geben, sie gehen auf eine Idee von Frei Otto zurück, der schon das Münchner Olympiagelände mitgeplant hat. Sechs Kelchstützen sind bisher gegossen. Dieses Jahr sollen sechs weitere fertig werden. Der Bahnhof soll schön werden in dieser Stadt, die selbst viele Einheimische für nicht umwerfend hübsch halten.

Was bringt das für Reisende?

Die Trasse ist Teil der geplanten Hochgeschwindigkeitsmagistrale von Paris nach Budapest und nicht der letzte Abschnitt, der neues Tempo ermöglichen soll. Für die Strecke Ulm-Augsburg beginnen gerade erst die Planungen. Im Dezember 2025 soll sich die Fahrt von Ulm nach Stuttgart von heute 56 auf 31 Minuten verkürzen. Den Stuttgarter Flughafen werden Reisende dann mit dem ICE vom Hauptbahnhof in acht Minuten erreichen. Mit der S-Bahn ist man bisher 27 Minuten unterwegs.

Der Durchgangsbahnhof wird nur acht Bahnsteige haben statt bisher 16. Gegner bezweifeln bis heute, dass das ausreichen wird. Doch selbst das Ministerium des S21-Kritikers Hermann macht dazu folgende Aussage: "Die mit Stuttgart 21 geplante Infrastruktur und der Durchgangsbahnhof verfügen über ausreichende Kapazitäten für die aus den vorliegenden Prognosen absehbare Verkehrsentwicklung sowie für den Deutschlandtakt." Hermann wirbt allerdings dafür, die Option für einen kleinen Kopfbahnhof als "Ergänzungsstation" für den Regionalverkehr offenzuhalten, um auf künftige Entwicklungen reagieren zu können.

Für die Stadt ist das Projekt eine einmalige Chance zur Stadtentwicklung: Wenn die Gleise und der Abstellbahnhof am Rosensteinpark verschwinden, werden im engen Talkessel fast hundert Hektar Land frei. Hier soll der neue Stadtteil Rosensteinviertel entstehen.

© SZ vom 01.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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