Strafrecht:Späte Gerechtigkeit für homosexuelle Männer in Deutschland

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Eine Demonstration gegen Paragraf 175 während der Aids-Woche in München, im Jahr 1990. (Foto: Egginger)
  • Über fünfzigtausend Männer sind in der Bundesrepublik nach dem berüchtigten Strafparagrafen 175 verurteilt und bestraft worden.
  • Jetzt sollen die damals verurteilten Männer rehabilitiert und entschädigt werden.
  • Wenn ein entsprechender Entwurf des Justizministeriums Gesetz wird, kann jeder Homosexuelle, der auf Grund des Paragrafen 175 in Haft saß, mit einigen Tausend Euro rechnen.

Von Heribert Prantl

Sex zwischen Männern war verboten, Sex zwischen Männern wurde bestraft. So war das 122 Jahre lang, auf der Basis des berüchtigten Strafparagrafen 175 - und die Folge war furchtbar: es war der soziale Tod. Die bürgerliche Existenz homosexueller Männer wurde von Polizei und Gerichten vernichtet. So war das noch in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Jetzt sollen die damals verurteilten Männer rehabilitiert und entschädigt werden. Der einschlägige Gesetzentwurf ist so gut wie fertig. Insgesamt sollen 30 Millionen Euro dafür aufgewendet werden, hat Bundesjustizminister Heiko Maas der S üddeutschen Zeitung  gesagt.

Der einschlägige Paragraf 175 Strafgesetzbuch existierte bis zum 11. Juni 1994 - bis 1969 galt er gar in der besonders rabiaten Fassung der Nationalsozialisten. Das hatte eine fatale Konsequenz: Die Männer mit dem "Rosa Winkel", die die Konzentrationslager überlebt hatten, wurden oft wieder in Haft genommen - weil ihre Freiheitsstrafe nach dem weiter gültigen Paragrafen 175 noch nicht ganz erledigt war. Sicherheit vor Verfolgung fanden nicht wenige Männer nur in der sexuellen Emigration: Es sind zahlreiche Fälle von KZ-Überlebenden dokumentiert, die sich noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren kastrieren ließen, angeblich freiwillig.

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Man holte sie vom Arbeitsplatz weg, verhörte die Kollegen

Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte verfolgten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, die alten und die jungen Homosexuellen; man spürte sie auf: Man holte sie vom Arbeitsplatz weg, verhörte Kollegen, Freunde und Familienmitglieder.

Die Strafverfolgungsbehörden taten das mit peinlichem Eifer, einem Eifer, der in einem Gesetzesentwurf des Jahres 1962 folgende Verbalisierung fand: "Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Sexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafrechts einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde."

Das war im Jahr 14 der Bundesrepublik. Im Jahr neun der Republik hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass der homosexuelle Mann dazu neige, "einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen". Keine andere Gruppe wurde in der Bundesrepublik vom Staat so ausdauernd und systematisch verfolgt. Im Strafgesetzbuch ist heute an der Stelle, wo einst der 175er stand, ein Loch, eine Leerstelle. Sie ist ein Symbol dafür, dass außer der Aufhebung des schändlichen Paragrafen bisher nichts weiter passiert ist: Die Urteile aus der Nach-NS-Zeit gelten nach wie vor.

Die Opfer dieses Paragrafen blieben vorbestraft. Der Bundestag hat sich zwar im Jahr 2000 in einer Resolution für die Verfolgung der Homosexuellen entschuldigt. Und das Verfassungsgericht wertet heute die Homo-Ehe rechtlich auf. Aber eine echte Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 kommt erst jetzt: Bundesjustizminister Heiko Maas hat angekündigt, noch im Oktober das "fast fertig" ausgearbeitete Gesetz vorzustellen. Es sieht die Aufhebung aller Strafurteile vor, die auf der Basis des Paragrafen 175 gefällt worden sind.

Mehr als fünfzigtausend Männer sind in der Bundesrepublik danach verurteilt und bestraft worden. Maas erläutert im Gespräch mit der SZ die Grundlinien des Gesetzes: "Wir wollen diese Urteile aufheben, wir wollen die verurteilten Männer auch entschädigen - also versuchen, das Unrecht auf diese Weise wenigstens finanziell ein wenig auszugleichen," sagt er.

Welche Entschädigung darf ein einzelnes Opfer erwarten? "Das wird immer auch vom konkreten Einzelfall abhängen," so Maas, "etwa der Dauer einer Freiheitsstrafe". Das Gesetz sehe einen Individualanspruch vor, der "relativ unkompliziert" geltend gemacht werden könne. Es gebe aber auch eine Kollektiventschädigung, "um das Leid und Unrecht, das Einzelne erlitten haben, aufzuarbeiten und zu dokumentieren".

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Maas rechnet damit, dass noch etwa fünftausend Menschen einen persönlichen Anspruch geltend machen könnten. Maas schätzt, dass dies "bis zu 30 Millionen Euro" kosten würde. "Wie und wann das haushalterisch abgebildet wird, entscheidet selbstverständlich erst der Bundestag". Es gebe aber aus allen Fraktionen "im Grundsatz positive Signale". Der Minister appelliert "an alle, die sich bislang mit diesem Thema schwer getan haben, es jetzt nicht zum politischen Grabenkampf zu missbrauchen.

" Wenn der Entwurf Gesetz wird, kann jeder Homosexuelle, der aufgrund des Paragrafen 175 in Haft saß, mit einigen Tausend Euro rechnen. Die Summe ist symbolisch; sie ist aber das Bekenntnis des Rechtsstaates, dass er sich schuldig gemacht hat. Maas folgt mit seinem Entwurf einem Gutachten, das die Antidiskriminierungsstelle des Bundes vom Münchner Rechtsprofessor Martin Burgi eingeholt hatte. Burgi empfahl die kollektive Rehabilitierung. Maas tut, wie angeraten: Der Rechtsstaat stellt seine Fähigkeit zur Selbstkorrektur unter Beweis.

Der Regisseur Rosa von Praunheim hat 1971 einen Film gedreht: "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt", hieß er. Der Gesetzentwurf gibt nun, 45 Jahre später, Praunheim recht: Nicht der Homosexuelle ist pervers. Die Gesellschaft war es, in der er lebte.

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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