Staaten und ihre Vergangenheit:Nur wer die Geschichte kennt, versteht die Gegenwart

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Eine ukrainische Bäuerin verteilt Essen an deutsche Soldaten hinter der Ostfront 1941. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Wirkmächtigkeit des Vergangenen zeigt sich heute im Fall der Ukraine. Die Deutschen verwandelten im Zweiten Weltkrieg die Region zur Todeszone für Abermillionen Menschen. Trotz der historischen Verantwortung muss man die gewaltbereite Machtpolitik Wladimir Putins benennen - und verurteilen.

Ein Kommentar von Kurt Kister

Wer zu Ostern - oder an einem normalen Sonntag - in die Kirche geht, der kommt oft an jenen Tafeln vorbei, auf denen die Namen der Kriegstoten eingemeißelt sind. Einmal im Jahr, am Volkstrauertag, gibt es, zumindest in kleineren Gemeinden, eine Totenehrung mit dem Schützenverein und der Feuerwehr. Veteranen sind kaum mehr dabei; sie gehen auf die neunzig zu, wenn sie als sehr junge Männer noch den Adler mit dem Hakenkreuz auf der Uniform trugen.

100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs und fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dämmern diese Kriegerdenkmäler von der Gegenwart in die Geschichte hinüber. Sie sind keine Ersatzgräber mehr, an denen Angehörige trauern, sondern Architektur-Bestandteile der Kirche oder des Kirchhofs.

Mix aus Tradition, historischen Geschehnissen und Obskurantismus

Manchmal, selten, stehen Jüngere davor, die ihren Familiennamen suchen. Und gelegentlich, wenn man auf dem Denkmal nicht nur Namen und Todesdaten liest, sondern die Orte, an denen die Männer starben, erkennt man, wie eng die Geschichte mit der Gegenwart verbunden ist.

Man findet Orte wie Charkow, Donezk oder Djneprpetrowsk, oft gemeinsam mit den Jahreszahlen 1942 oder 1943. Heute schreibt man diese Orte etwas anders, aber weil sie in der Ukraine liegen, sind sie auch in den Ostertagen 2014 wieder in den Nachrichten.

Die Ukraine ist eines der meist geschundenen Länder Europas. Jene Brauns, Müllers und Meiers auf den Kriegerdenkmälern sind in der Ukraine gestorben, weil die Deutschen in der Nazi-Zeit daran geglaubt haben, dass man Lebensraum im Osten brauche. Dieser präsumtive Lebensraum für die Deutschen wurde zur Todeszone für Abermillionen Polen, Russen, Weißrussen und Ukrainer.

Man muss das berücksichtigen, wenn man als Deutscher über die Ukraine und das Verhalten der Russen urteilt. Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser aus dem 20. Jahrhundert überkommenen historischen Verantwortung aber darf und muss man die gewaltbereite Machtpolitik, die Wladimir Putins Regierung im 21. Jahrhundert betreibt, deutlich benennen und verurteilen.

Nicht nur so alltägliche Dinge wie Kriegerdenkmäler zeugen von der Wirkmächtigkeit des Vergangenen in der Gegenwart. Es gibt Bücher, die im besten Sinne des Wortes "gelehrt" sind, weil sie einem helfen, die Welt von heute über die Welt von gestern besser zu verstehen. Manche von ihnen werden sehr kontrovers beurteilt, oft lohnen sie nicht zuletzt deswegen das Lesen besonders. Christopher Clarks "Die Schlafwandler" über den Beginn des Ersten Weltkriegs ist so ein Buch; Timothy Snyders "Bloodlands" ebenso.

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Mythen über den Ersten Weltkrieg, die bis heute lebendig sind. Briefe des Malers Franz Marc von der Westfront. Eine Biografie, die zeigt, wie morsch das kaiserliche Österreich 1914 war. Und Beschreibungen eines berühmten Veteranen, in dem der Krieg auch im Frieden weiter loderte.

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Snyder analysiert anhand zweier enorm monströser Regime in jenem, an monströsen Regimen wahrlich nicht armen 20. Jahrhundert, wie Menschen, Zivilisation und Geist in Europa zerstört worden sind. Er nimmt sich dafür Stalins Sowjetunion und Hitlers Deutschland vor. Er vergleicht nicht, aber er stellt Entwicklungen in Beziehung zueinander. Wer Snyder gelesen hat, der weiß sehr genau, dass und warum gerade Weißrussen, Polen und Ukrainer, historisch gesehen, allen Grund haben, den Deutschen, aber auch den Russen zu misstrauen.

Politiker und Publizisten jeder Art machen die Geschichte gerne zur Magd der Politik. Territoriale Expansion oder die Aneignung von Inseln und Halbinseln, Bodenschätzen und Land wird mit dem Inhalt alter, heiliger Bücher sowie Siedlungsbewegungen aus dem Mittelalter oder dem Schutz angeblich ähnlicher Menschen (Deutsche, Russen, Muslime) vor anderen Menschen begründet. Zumeist sind solche nationalen Legenden eine Mischung aus Tradition, historischen Geschehnissen und Obskurantismus.

Überall dort, wo ein Staat auch aus nationalem, politischem Interesse heraus Geschichtsforschung und Archäologie dezidiert fördert, muss man genau hinschauen. Mit Tonscherben, Grundmauern und Festungsruinen lässt sich nicht nur historische Entwicklung verstehen, sondern ebenso ein Anspruch auf das Hier und Jetzt aus dem Damals konstruieren.

Das kann sich relativ harmlos auswirken wie einst Helmut Kohls Bestrebungen, in Bonn mit dem "Haus der Geschichte" so etwas wie ein Museum des bundesrepublikanischen Überbaus zu schaffen. Das Haus ist heute ein veritables Museum, die politische Überbau-Idee (westdeutsche Freiheit mit amerikanischem Akzent versus Ostblock-Kollektivismus) hat sich 1989 ff. erledigt.

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Es kann aber auch so brandgefährlich bleiben oder werden wie etwa der Dauerstreit zwischen Israelis und Palästinensern um die Archäologie des Tempelbergs. Politische Forderungen, die mit Hilfe der Interpretation historischer Prozesse begründet werden, führen manchmal gar zu Krieg oder Bürgerkrieg. Man kennt das aus der Vergangenheit (Elsass-Lothringen) und der Gegenwart (Ukraine).

Im Ringen um die historische Begründung des Lebens in Gesellschaften und (National-)Staaten wohnen das Gute und das weniger Gute oft sehr eng zusammen. So sind das Selbstbestimmungsrecht der Völker (gut) und der mehr oder weniger aggressive Nationalismus (schlecht) mindestens illegitime Geschwister. Die Zustände auf dem Balkan bis 1914 belegen das ebenso wie die blutige Reprise der Balkankriege in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

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Trotzdem ist der Beginn des neuen Jahrhunderts eine Übergangsphase, weil es nicht wenige gibt, die bewusst die Ära der Blockkonfrontation erlebt haben. In dieser Zeit der Abgrenzung existierten für manche Probleme dezidiert "nationale" Lösungsansätze - von der Sozialpolitik über die Währung bis zur Ausgestaltung der Bürgerrechte.

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Man muss die Geschichte kennen, um die Gegenwart zu verstehen. So gehört das Wissen um die Vergangenheit, gefördert von der Geschichtswissenschaft, zur Grundausstattung des denkenden, fragenden Menschen. Leider ist der zum Missbrauch werdende Gebrauch der Geschichte auch das Kennzeichen vieler, die Gewalt oder Gegengewalt rechtfertigen.

© SZ vom 17.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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