Als die Euro-Krise 2010 einen ihrer ersten Höhepunkt erreichte, verfasste der französische Intellektuelle, Résistance-Veteran und KZ-Überlebende Stéphane Hessel sein Manifest "Empört Euch!". Nirgendwo hat dieser Aufruf zum Widerstand gegen die Auswüchse des Finanzkapitalismus soviel Widerhall gefunden wie in Spanien. Los Indignados, die Empörten, nannte sich die Protestbewegung, die fortan Straßen und Plätze eroberte und zum Vorbild kapitalismuskritischer Gruppen von Frankfurt bis New York wurde.
Nun, fünf Jahre später, haben die Empörten die etablierte Politik erobert. Nach den Kommunalwahlen geht in Spanien nur noch wenig ohne die Bürgerbewegung, die sich landesweit unter dem Etikett Podemos (Wir können) versammelt hat.
Kommunal- und Regionalwahlen:Kräftiger Linksruck in Spanien
Vier Jahrzehnte lang regierten in Spanien abwechselnd die konservative PP und die sozialistische PSOE. Nun ist die linksalternative Gruppierung Podemos in Barcelona die größte und in Madrid die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat. Regieren kann sie deshalb noch nicht.
Das Zweiparteiensystem in Spanien ist hinüber
Das ist eine Zäsur in Spanien, die mittelfristig Folgen für Europa haben kann. Das Zweiparteiensystem, das nach dem Ende der Franco-Diktatur entstand, ist hinüber. Der letzte Nachhall der nationalkatholischen Diktatur ist, dass Spanier, wenn sie unzufrieden sind, eher links als rechts wählen - umgekehrt als etwa Polen oder Ungarn, die entgegengesetzte historische Erfahrungen gemacht haben. Rechtsnationale Tendenzen, so vorhanden, werden in Spanien von der konservativen Regierungspartei PP absorbiert. Die muss nach der Kommunalwahl auch ein Debakel bei der Parlamentswahl im Herbst fürchten.
Die PP hat seit 2011 fünf Millionen Wähler eingebüßt. Sie zahlt für die Korruptionsaffären, in die viele ihrer Führungskader verstrickt sind, aber auch für Ideenlosigkeit und Selbstgefälligkeit. Ob Ministerpräsident Mariano Rajoy im Herbst noch Spitzenkandidat sein wird, ist unklar. In einem derart verfilzten Apparat wimmelt es von Königsmördern, die Morgenluft wittern, zumal Rajoy zu keiner Selbstkritik bereit oder fähig ist. Er verweist stoisch auf den zögerlichen Aufschwung im Land, verkennt dabei aber, dass dieser bei den wenigsten Spaniern ankommt. Ein paar prekäre Jobs als Kellner oder Bauarbeiter mehr - das löst nicht das gewaltige Strukturproblem der Wirtschaft, das Rajoy nicht ansatzweise gelöst hat.
Der PSOE-Chef wird nicht den Sigmar Gabriel Spaniens geben
Ob Podemos das könnte, ist noch die Frage. Doch in den Augen ihrer Wähler haben die Bürgerbewegungen zumindest in einem Bereich sichtbare, konstruktive Arbeit geleistet: Als die Straßenproteste abebbten, zogen sich die Empörten nicht in Diskutierzirkel zurück. Es entstanden soziale Initiativen, welche die schlimmsten Krisenfolgen abfederten, allen voran die Plattform gegen Wohnungsräumungen, die gegen das unsoziale Hypothekengesetz mobilmachte und oft echte Erleichterungen für Betroffene erreichte. Ihre Sprecherin Ada Colau wurde dafür nun mit dem Wahlsieg in Barcelona belohnt.
Podemos-Anführer Pablo Iglesias gab der buntscheckigen Bewegung ein ideologisches Fundament - mit Anleihen beim lateinamerikanischen Linkspopulismus. Doch ist Podemos, anders als die griechische Syriza, bei Weitem nicht stark genug, um die Macht im Land zu erobern. Auch das hat die Kommunalwahl gezeigt. Ein Wechsel in Madrid wäre nur zusammen mit der sozialdemokratischen PSOE möglich. Eine solche Kooperation ist näher gerückt. Noch am Wahlabend hat PSOE-Chef Pedro Sánchez seinen Widerstand gegen "jede Form von Populismus" aufgegeben. Er hat damit klargemacht, dass er im Herbst nicht als der Juniorpartner der PP zur Verfügung steht, also nicht den Sigmar Gabriel Spaniens geben wird.
Für Angela Merkel und die anderen Verfechter eines strikten Sparkurses in Europa ist das eine eher beunruhigende Nachricht. Sollte Spanien vom Herbst an rot-rot regiert werden, würden sie in der EU einen weiteren südeuropäischen Gegner bekommen. Nicht so radikal wie die Griechen zwar - aber ebenfalls ziemlich empört.