Irland:Der Tiktok-Taoiseach

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Simon Harris ist neuer Regierungschef der Republik Irland. (Foto: Clodagh Kilcoyne/REUTERS)

Nach dem überraschenden Rücktritt von Leo Varadkar wählt das irische Parlament den 37-jährigen Simon Harris zum jüngsten Regierungschef der Landesgeschichte. Nach einer langen Amtszeit sieht es für ihn aber nicht aus.

Von Michael Neudecker, London

Zu den auffälligsten Eigenschaften von Simon Harris, heißt es, gehöre sein Gang. Er geht so, wie sich auch seine Karriere entwickelt: rasch vorwärts. Harris, der Sohn einer Sonderschulbegleiterin und eines Taxifahrers aus dem irischen County Wicklow, schrieb mit 13 ein Theaterstück, mit 15 engagierte er sich lokalpolitisch für Menschen mit Autismus, wegen seines jüngeren Bruders, eines Asperger-Autisten.

Mit 17 kam er in den nationalen Vorstand der Nachwuchsorganisation der Partei Fine Gael, als jüngstes Mitglied bisher; mit 21 verließ er sein Journalismus-Studium, um für eine Abgeordnete zu arbeiten. Mit 22 wurde er mit einem Rekordergebnis in den Gemeinderat von Wicklow gewählt, mit 24 als Abgeordneter ins irische Parlament. Mit 27 wurde er Juniorminister im Finanzministerium, mit 29 Gesundheitsminister, mit 34 Wissenschafts- und Bildungsminister. Jetzt ist er 37. Seit diesem Dienstag ist er damit der jüngste Regierungschef, den Irland je hatte. Im Parlament stimmten neben der Fraktion seiner eigenen Partei und denen der Koalitionspartner auch einige unabhängige Abgeordnete für ihn.

Kein öffentlicher Machtkampf, keine parteiinternen Rangeleien

Beim Parteitag von Fine Gael am vergangenen Wochenende sprach Harris erstmals als Parteichef, es war keine außergewöhnliche Parteitagsrede, aber eine schwungvolle, voller Enthusiasmus, wie sich das gehört für einen jungen Politiker, der schon früh als Kommunikationstalent galt. Harris ist der Nachfolger von Leo Varadkar, der vor drei Wochen überraschend zurücktrat, wobei die Nachfolgeregelung erstaunlich geräuschlos passierte.

Es gab, anders als man es etwa von der Regierungspartei im benachbarten London gewöhnt ist, keinerlei öffentlichen Machtkampf, keine wochenlangen Vorstellungsrunden und parteiinternen Rangeleien. Simon Harris wurde schlichtweg und ohne tiefere Begründungen zum neuen Chef erklärt.

Er erschien, wie es aus der Partei heißt, eben als logische Wahl. Ein Gemeinderat, der Harris schon seit dessen Zeit als Jugendlicher kennt, als er in zu großen Anzügen bei Meetings auftauchte, sagte der Irish Times: "Es war immer offensichtlich, dass er zum Politiker geboren wurde."

2020 gab es ein Misstrauensvotum gegen den jungen Gesundheitsminister

Dabei hatte er in seiner ersten Ministerrolle keine einfache Zeit. Das Gesundheitssystem Irlands war 2016 in keinem besseren Zustand, als es heute ist, schon damals waren die Wartelisten für Behandlungen zu lang, der Verwaltungsrückstau enorm. Harris erlangte während des Abtreibungsreferendums, das 2019 mit einem klaren "Yes" endete, kurzzeitige Popularität, nachdem er sich entgegen seiner früheren Position vehement für das Recht auf Abtreibung für Frauen eingesetzt hatte.

Es folgte allerdings eine Kontroverse über die explodierenden Kosten für das Nationale Kinderkrankenhaus in Dublin von anfangs 650 Millionen auf zuletzt mehr als 1,7 Milliarden Euro - der gewaltige Bau ist acht Jahre nach Baubeginn noch immer nicht fertig. Harris überstand 2020 ein Misstrauensvotum im Parlament, bald darauf rettete ihn die Wahl - und die Pandemie.

Sein geschickter Umgang mit der Pandemie, insbesondere, was die Kommunikation mit der Öffentlichkeit über die von ihm gern genutzten Plattformen Instagram und Tiktok anging, brachte ihm einen unverhofften Beliebtheitsschub.

Schon im März 2025 könnte Harris' Amtszeit enden

Zwar lief, wie in den meisten anderen Ländern auch, nicht alles gut, aber gerade für jüngere Wähler vermittelte Simon Harris den Eindruck eines jungen Menschen wie du und ich, fehlbar vielleicht, aber auch nahbar, engagiert und unermüdlich arbeitend. Dass er in Parlamentssitzungen auch mal Wörter wie "chillax" verwendete und danach erstaunt erklärte, junge Iren benutzten diese Kombination aus "chill" und "relax" doch ständig, gereichte ihm sicher nicht zum Nachteil.

All das brachte ihm eine Versetzung in das neu geschaffene Ministerium für Weiter- und Hochschulbildung, Forschung, Innovation und Wissenschaft ein, später vertrat er noch seine Kollegin Helen McEntee während deren Elternzeit als Justizminister. An seinem Anspruch, einmal die Parteiführung zu übernehmen, ließ er nie einen Zweifel. Weil Fine Gael derzeit auch den Regierungschef stellt, der in Irland Taoiseach heißt, ist Harris nun also vom Parlament zu Varadkars Nachfolger gewählt worden. Die irischen Zeitungen nennen den Neuen den "Tiktok-Taoiseach".

Er werde "von Anfang an anpacken", sagte Harris in wohl geübter Politikerfloskelei zum Antritt. Das ist aber auch nötig: Irland steckt in einer Krise, vor allem die Situation auf dem Haus- und Wohnungsmarkt ist angespannt, es fehlen bezahlbare Unterkünfte. Viel Zeit hat Harris nicht. Im März 2025 sind Wahlen in Irland, in den Umfragen führt die Oppositionspartei Sinn Féin klar. Wenn das so bleibt, wäre Simon Harris nicht nur der jüngste Taoiseach der irischen Geschichte, sondern auch der mit der kürzesten Amtszeit.

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