Ukraine-Krieg:Muster der Grausamkeiten

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Ein Lkw im belagerten Mariupol, darauf in kyrillischer Schrift das Wort "Kinder" - was niemanden abgeschreckt hat, den Wagen zu beschießen. Mehr als 100 000 Menschen harren weiter in Mariupol aus. (Foto: Alexander Ermochenko/Reuters)

Plündern, verschleppen, morden: Russland wiederholt in der Ukraine den Terror, den es schon seit 2014 in den Gebieten Donezk und Luhansk verbreitet.

Von Florian Hassel, Belgrad

Es sind beunruhigende Zahlen der ukrainischen Nichtregierungsorganisation "Östliche Menschenrechtsgruppe" über das Wirken russischer Besatzungstruppen im Osten der Ukraine: Seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar seien in der Region Luhansk bis Ende März täglich "40 bis 50" pro-ukrainische Aktivsten festgenommen worden.

Auch in der angrenzenden Region Charkiw meldet die Menschenrechtsgruppe Entführungen pro-ukrainischer Aktivisten und Politiker. Mykola Sikalenko etwa, Vorsteher des Dorfes Tsirkuniwka nahe Charkiws, wurde offiziellen ukrainischen Quellen zufolge am 21. März entführt - bis heute fehle von ihm jede Spur. Das Gleiche gilt für andere Aktivisten in Gebieten unter russischer Kontrolle.

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Bereits am 24. März machten Nachrichten über die erzwungene Verbringung Tausender Menschen aus der eingeschlossenen Hafenstadt Mariupol in "Filtrationslager" und weiter nach Russland Schlagzeilen. Die Existenz eines solchen Filtrationslagers nahe der Kleinstadt Nowoasowsk am Asowschen Meer in der Oblast Donezk wurde auch durch Satellitenaufnahmen bestätigt. Der Bürgermeister von Mariupol und der Militärgouverneur der Region Donezk haben mittlerweile eine Datenbank von über 40 000 Einwohnern Mariupols - vor allem Frauen und Kindern - erstellt, die nach übereinstimmenden Aussagen verschiedener Quellen gegenüber ukrainischen und westlichen Medien meist gegen ihren Willen nach Russland gebracht wurden.

Eine Ortsvorsteherin wurde entführt. Jetzt hat man sie, ihren Mann und ihren Sohn gefunden - ermordet

Der Stadtverwaltung von Mariupol zufolge wurden etwa 600 Patienten, Krankenschwestern und Ärzte aus dem dortigen Krankenhaus Nr. 1 ebenso verschleppt wie 70 Frauen aus der Geburtsklinik Nr. 2 im Stadtteil Lewobereschnij. Eine Einwohnerin beschrieb dem ukrainischen Informationsdienst Graty, dass russische Soldaten sie gezwungen hätten, mit rund 90 anderen Einwohnern nach Russland zu fahren. "Es war eine erzwungene Evakuierung - niemand von uns wollte die Ukraine verlassen. Hätten wir die Wahl gehabt, wären wir geblieben oder zur Seite der (von Kiew kontrollierten, Anm. d. Red.) Ukraine gefahren."

Im Filtrationslager hätten russische Beamte vielen Menschen ihre Mobiltelefone, Pässe und andere Ausweispapiere abgenommen. Nach Verhören durch Offiziere des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB seien die Menschen mit Bussen und Zügen in andere Regionen Russlands gebracht worden.

Dem Gründer der Östlichen Menschenrechtsgruppe Pawel Lisianskij zufolge gibt es weitere Filtrationslager, in die entführte Aktivisten aus der Region Luhansk oder der teils von russischen Truppen besetzten Region Cherson gebracht würden: etwa die frühere Strafkolonie Nr. 23 "Tschornuchin" im Perewalskij-Bezirk der Region Luhansk, in der nun der russische Geheimdienst FSB residiere. "Wenn jemand in seiner Gemeinschaft über Autorität verfügt, ist er gefährlich und wird sofort verhaftet", sagte Lisianskij dem Radiosender Hromadske. "Weniger einflussreiche Personen werden deportiert. Manchen wird Zusammenarbeit angeboten - wer zustimmt, wird weiter von ihnen kontrolliert. Und schließlich kann jemand auch getötet und gesagt werden, dass er oder sie vermisst wird."

Auch Olga Suchenko, Vorsteherin des Dorfes Motyschyn nordwestlich von Kiew, galt als vermisst, seit sie am 11. März mit ihrem Mann Ihor und Sohn Oleksandr aus ihrem Haus entführt wurde. Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Kiew wurden die Leichen der drei ermordeten, zuvor gefolterten Suchenkos in einem provisorischen Grab in einem Waldstück gefunden - drei von mehreren Hundert Menschen, die allein in der Region Kiew von russischen Einheiten offenbar ermordet wurden.

In Mariupol warf Bürgermeister Wadim Boitschenko der russischen Armee vor, mobile Krematorien einzusetzen, um in ihnen die Leichen toter Einwohner zu verbrennen - dies ist bisher nicht unabhängig bestätigt. In Kiew veröffentlichte der ukrainische Militärgeheimdienst Namenslisten von Offizieren und Soldaten der 64. Motorschützenbrigade aus Russland, die am Morden in Butscha beteiligt gewesen sein sollen.

Moskaus Rhetorik entmenschlicht die Ukrainer - entsprechend unmenschlich handeln Soldaten

Der Kreml wiederholt in den besetzten Gebieten der Ukraine offenbar die Politik des Terrors, die er schon von 2014 an in den von Putin-Ratgeber Wladislaw Surkow organisierten "Volksrepubliken" in Donezk und Luhansk in der Ostukraine anwandte: Dort wurden pro-ukrainische Vertreter systematisch entführt und ermordet. Von Hunderten Menschen fehlt bis heute jede Spur. Das Londoner Royal United Services Institute warnte am 15. Februar 2022, also mehr als eine Woche vor Kriegsausbruch, Russlands Geheimdienste hätten unter der Oberaufsicht von Dmitrij Kosak, Vize-Chef der Kreml-Verwaltung, seit Juli 2021 für den neuen Krieg Todeslisten zu ermordender Ukrainer aufgestellt.

Und das Morden könnte erst am Anfang stehen. Russlands staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti veröffentlichte am Sonntag einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel "Was Russland mit der Ukraine machen soll". Der in seiner Rhetorik an die Wortwahl von Präsident Wladimir Putin angelehnte, mit glatten Lügen über angeblichen ukrainischen Terror gespickte Aufsatz liest sich wie eine kaum verhüllte Aufforderung zum Völkermord an den Ukrainern.

"Wir brauchen keine nazistische Ukraine, einen Feind Russlands und ein Instrument des Westens zur Vernichtung Russlands", so der kremlnahe Autor Timofej Sergejzew, der der Ukraine schon früher wiederholt das Existenzrecht absprach und seit 2014 Kolumnist der vom Kreml kontrollierten Nachrichtenagentur ist. "Die Nazis, die die Waffe in die Hand genommen haben, müssen auf dem Schlachtfeld maximal vernichtet werden", forderte Sergejzew jetzt. Schuldig sei in der Ukraine auch "ein bedeutender Teil des Volkes, wahrscheinlich seine Mehrheit", die das "Nazi-Regime" stützten und "passive Nazis" seien. Sergejzew schlug "eine gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung", "Entnazifizierung" und "harte Zensur" in Politik, Kultur und Bildung vor.

Mehr noch: "Die Entnazifizierung wird unausweichlich auch eine Ent-Ukrainisierung sein - eine Abkehr von der noch von der sowjetischen Macht begonnenen, künstlichen Entfaltung einer ethnischen Komponente der Selbstidentifizierung der Bevölkerung der Territorien des historischen Kleinrussland und Neurussland." Mit ähnlicher Wortwahl hatte auch Putin der Ukraine und den Ukrainern in den vergangenen Jahren wiederholt eigene Geschichte und Identität und das Recht auf Selbstbestimmung außerhalb einer Moskauer Oberherrschaft abgesprochen.

Die entmenschlichende Rhetorik des Kreml dürfte wohl einer der Faktoren sein, dass russische Soldaten in besetzten Gebieten der Ukraine offenbar nicht nur bisher ungestraft morden, sondern auch plündern - und die Beute in aller Seelenruhe per Post in die Heimat schicken. Die belarussische Menschenrechtsgruppe Hajun Projekt veröffentlichte Videoaufnahmen russischer Soldaten, Namenslisten und Details zu Postsendungen im Gesamtumfang von über zwei Tonnen, die die Soldaten in der belarussischen Stadt Masur binnen weniger Stunden bei einem Kurierdienst aufgaben: Der Rekordhalter, der Soldat Jewenij K., schickte gleich 450 Kilo Lautsprecher und offenbar weitere Plünderware in seine russische Heimatstadt.

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