Auf dem Visumsantrag von Vadim Sokolov war zudem ein angeblicher Arbeitgeber vermerkt: Die Firma 3AO Rust, deren Buchhalter und Generaldirektor hatten eine Bescheinigung unterzeichnet. Sokolov sei Ingenieur in dem Unternehmen. Laut dem Handelsregister befindet sich diese Firma gerade in einer "Reorganisation", was immer das auch heißen soll.
Die investigativen Plattformen Bellingcat und The Insider hatten nach dem Attentat auf Selimchan Changoschwili bereits die Vermutung geäußert, dass der mutmaßliche Mörder Unterstützung von russischen Stellen bekommen haben könnte. So soll der Pass des Tatverdächtigen in Datenbanken in Russland gesperrt sein, und zwar mit dem Hinweis: Die Person sei "vom Gesetz geschützt".
Sollte die Bundesanwaltschaft nach Ende der Ermittlungen tatsächlich den russischen Staat für den Mord in Berlin-Moabit verantwortlich machen, könnte dies erhebliche diplomatische Zerwürfnisse auslösen. Immerhin wäre der Vorwurf dann: Staatsterrorismus. Die russische Seite hat eine Beteiligung an dem Verbrechen stets abgestritten. Jüngst soll es zudem eine Einladung an das Bundesamt für Verfassungsschutz nach Moskau gegeben haben: Man wolle die Deutschen davon überzeugen, dass man nichts mit der Tat zu tun habe.
Ohne handfeste Indizien soll Russland nicht beschuldigt werden
In der wöchentlichen Runde der Geheimdienstchefs im Bundeskanzleramt, der "nachrichtendienstlichen Lage", war der Mord seit Wochen immer wieder Thema, jede neue Meldung ausländischer Dienste, jeder Fortschritt in den Ermittlungen wurde debattiert. Aus der Opposition im Bundestag kam bereits Kritik, der Generalbundesanwalt lasse sich viel zu viel Zeit mit der Übernahme des Verfahrens. Die Bundesregierung stand unter Druck: Einerseits wollte man keinesfalls den Eindruck erwecken, als nehme man den Mord bei helllichtem Tag und den Verdacht einer russischen Beteiligung nicht ernst genug. Andererseits wollte man ohne handfeste Indizien auch Russland nicht voreilig beschuldigen.
Den Ausschlag gaben schließlich die immer dichter werdenden Erkenntnisse über den mutmaßlichen Täter - und dass die Ermittlungen andererseits keine Hinweise auf einen denkbaren anderen Hintergrund ergaben: weder ein familiäres Motiv noch Verstrickungen in organisierte Kriminalität oder das islamistische Milieu. Auch die dürren Auskünfte Moskaus auf die drängenden Fragen der deutschen Ermittler trugen zum Misstrauen bei.
In der Bundesregierung ist man entschlossen, jetzt erst einmal den weiteren Gang der Aufklärung abzuwarten. Eine Ausweisung russischer Diplomaten - wie nach dem Fall Skripal - gilt erst einmal als unwahrscheinlich. Das britische Vorgehen nach dem Mordversuch an dem russischen Überläufer und seiner Tochter im vergangenen Jahr hatte in Berlin Kopfschütteln ausgelöst. Erst mit Verspätung präsentierten die Briten ihre Beweise. Die Bundesregierung will es anders machen: Erst die Beweise - dann die politische Reaktion.