Es wird gleich ungemütlich werden beim Griechen in Großenaspe. 3000 Einwohner zählt die schleswig-holsteinische Gemeinde, 350 von ihnen sind an diesem Juliabend in den großen Saal der Gaststätte gekommen. Das Thema bringt die Bürger auf die Beine: der Schutt von Atomkraftwerken. Vorne sitzen der Energiewendeminister Robert Habeck von den Grünen und Strahlenschutz-Fachleute des Landes. Ihr Ziel: Den Bürgern erklären, dass beim Rückbau der schleswig-holsteinischen AKWs viel Schutt anfällt - der aber großteils so wenig radioaktiv ist, dass er sich von normalem Schutt nicht unterscheidet. Deshalb soll er auf eine Mülldeponie. Zum Beispiel auf die in Großenaspe.
Viele Bürger aber haben Angst vor dem Müll vom AKW. "Er verharmlost das doch alles", ruft einer. Es gibt empörte Widerreden, Gegenvorschläge, Appelle. Und nach drei Stunden bewegter Debatte kommt dann noch eine Dame von der örtlichen CDU und überreicht unter Applaus 1600 Unterschriften gegen den Schutt. Minister Habeck lächelt müde. Wie soll er die Leute noch davon überzeugen, dass die Trümmer abgeschalteter Atomkraftwerke nicht gefährlicher sind als anderer Schutt?
275 000 Tonnen Schutt, Schrott und Atommüll stecken allein im AKW Obrigheim
Das Problem mit dem Schutt ist die Kehrseite des Atomausstiegs. In Obrigheim etwa, einer Gemeinde zwischen Heilbronn und Heidelberg, arbeitet der Energiekonzern EnBW seit Jahren am Rückbau eines Atomkraftwerks. 2005 wurde es stillgelegt, mittlerweile sind 300 Leute damit beschäftigt, dort, wo einst das Kraftwerk stand, eine "grüne Wiese" zu schaffen. Die ersten Fuhren Bauschutt ließen sich noch auf einer Deponie unterbringen. Danach aber ging nichts mehr. Seither lagern die Trümmer der Atomkraft auf dem Kraftwerksgelände. 275 000 Tonnen Schutt, Schrott und Atommüll stecken allein in Obrigheim.
Szenen aus dem stillgelegten AKW Obrigheim: Messinstrumente im Kontrollraum.
Arbeiter entfernen Rohre aus dem ehemaligen Turbinenraum des Kraftwerks.
Der Turbinenraum ist inzwischen weitgehend abgebaut worden.
Doch nur ein Prozent davon gilt als radioaktiv verstrahlt, müsste also in ein Endlager. Ein weiteres Prozent darf als konventioneller Schutt auf Deponien, wenn die Strahlung unter bestimmten Grenzwerten bleibt. "Freimessen" nennen das die Experten. Der Rest wird zu Schotter und ähnlichem zerhäckselt. Trotzdem steht der gesamte Schutt bei vielen unter Strahlenverdacht. "Irgendwie ist dieser Müll mit einem Makel behaftet", sagt ein Bürger in Großenaspe. Und in Obrigheim, heißt es aus dem EnBW-Konzern, drehe sich die Angelegenheit "um den Absender".
Die "Freimessung" sei ein Wort, um Menschen zu beruhigen
Das Misstrauen gegen diesen "Absender", Politik und Behörden, ist seit Jahren gewachsen und wurde bei Umweltgruppen und Grünen gut gepflegt. "Wir haben ja selbst immer gesagt, misstraut dem Staat", sagt Robert Habeck. Für den Atomausstieg hat dies nun paradoxe Folgen: Leute, die früher gegen Atomkraftwerke protestiert haben, bekämpfen nun deren Abriss - aus Angst vor neuer Strahlung.
In Grafenrheinfeld bei Schweinfurt wurde vor einem Jahr ein Atomkraftwerk stillgelegt, seither bereitet der Betreiber Eon den Abriss vor - gegen erbitterten Widerstand. "Mit dem Abrissverfahren sind wir nicht einverstanden", sagt Herbert Barthel, der sich für den Umweltverband Bund Naturschutz mit dem Grafenrheinfelder Ausstieg befasst. Einer der größten Vorbehalte: der Schutt aus dem Atomkraftwerk.
Denn die Naturschützer finden auch solche Strahlung gefährlich, die die Behörden für vernachlässigbar halten. "Wir können nicht akzeptieren, dass dieser Müll dann in die Gesellschaft entlassen wird." Die "Freimessung", das sei zunächst mal ein geschicktes Wort, um Menschen zu beruhigen. "Wenn ein Rohr diese Freimessung besteht, taucht es irgendwann später als Treppengeländer wieder auf", sagt Barthel. "Aber Radioaktivität kann es immer noch enthalten."
Eine Alternative wäre der Stopp des Abrisses, finden die Umweltschützer. "Man kann die Frage noch nicht klar beantworten", sagt Barthel. "Aber es könnte sein, dass das Kraftwerk stehen bleiben muss." Denn auch für den verstrahlten Abrissschutt gibt es keine Deponie. Eigentlich sollte er in das Endlager für mittelradioaktiven Abfall, Schacht Konrad. Der ist seit 2008 in Bau und sollte längst fertig sein. Mit Glück gelingt das 2022. Wenn aber der Strahlenschutt aus Grafenrheinfeld nirgends hin kann, muss er direkt beim ehemaligen AKW lagern. "Den Leuten wird langsam klar", sagt Barthel, "sie kriegen das Problem nicht weg, nur weil wir den Reaktor abreißen." Noch schlechter sieht es beim hochradioaktiven Abfall aus. Hier ist ein Endlager noch gar nicht in Sicht.
Atomruinen aus Angst vor dem Abriss? Auch den Stromkonzernen graut bei dieser Vorstellung. Sie wollen den Abriss möglichst schnell hinter sich bringen - und damit die Verantwortung für den Müll loswerden. Denn wenn der letzte Krümel verpackt oder entsorgt ist, so will es eine Regierungskommission, soll künftig der Staat den Atommüll übernehmen.
"Diese Debatte trägt auch irrationale Züge"
Vorher allerdings müssen sich vor allem grüne Minister mit der Angst herumschlagen. In vier von fünf betroffenen Bundesländern sind für den Rückbau Minister zuständig, die einst für die Stilllegung der AKWs stritten. "Diese Debatte trägt auch irrationale Züge", heißt es resigniert aus einem der grün geführten Ministerien. Während keiner die natürliche Radioaktivität kontrolliere, werde bei einem AKW extrem genau hingesehen. "Wenn man das aber vorbringt, steht man gleich im Verdacht, man wolle verharmlosen."
Die Atom-Angst sitzt tief, und sie ist auch mit viel gutem Zureden nicht so einfach in den Griff zu kriegen. In Schleswig-Holstein versucht es Robert Habeck. Sieben Deponien kämen dort als Lagerstätten für den Schutt infrage, an fast allen Standorten gab es Info-Veranstaltungen. Habeck hat den Rückbau erklärt, die Grundlagen der Radioaktivität, die Art des Schutts, er hat sich kritischen Fragen gestellt.
Wäre der Sack aus dem Kraftwerk gekommen, hätte er ins Endlager gemusst
Beim Streit über den Netzausbau hat diese Bürgernähe Habeck geholfen. Diesmal ist es schwieriger. Mehrere Gemeinden haben sich schon dagegen ausgesprochen, den Schutt auf ihre Deponien zu lassen. Bei der jüngsten Veranstaltung mit Gemeindevertretern, Bürgerinitiativen und Naturschützern einigte man sich immerhin, dass der Prozess weitergehen soll. "Dass es gerade beim Rückbau der Atomkraftwerke so schwierig ist, eine Verantwortungs-Gemeinschaft herzustellen, damit hatte ich nicht gerechnet", sagt Habeck. Und das für Müll, der kaum belastet ist. Wie soll das erst bei der Suche nach einem Endlager für radioaktiven Müll werden?
In Obrigheim schickte die Betriebsmannschaft neulich spaßeshalber einen 45-Kilo-Sack Kunstdünger durch die Messanlage - Kunstdünger, wie man ihn in Baumärkten bekommt. Sie fand Kalium, Uran und Blei. Wäre der Sack aus dem Atomkraftwerk gekommen und nicht aus dem Baumarkt, hätte er ins Endlager gemusst. So aber landet er auf Äckern und Wiesen.