Reisen:Mein Kontrolleur, der Computer

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Ende einer langen Reise: Flüchtlingskinder an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien. (Foto: dpa)

Eine nostalgische Zugfahrt nach Zagreb und die traurige Erkenntnis: Nicht mehr der Grenzbeamte, sondern eine Maschine entscheidet über die Einreise.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Der Zug braucht von Villach im Süden Österreichs mehr als vier Stunden, um den Bahnhof von Zagreb zu erreichen, einen schönen klassizistischen Bau, der ausgerechnet jetzt, da die kroatische Hauptstadt zur europäischen Metropole aufgerüstet wird, jämmerlich zu verfallen droht. Vier Stunden, das ist schnell genug, immerhin gilt es, das ganze Territorium Sloweniens zu durchqueren, und es stellt gegenüber den Zeiten, als Zagreb noch Agram hieß und das "Königreich Kroatien und Slawonien" Teil der habsburgischen Monarchie war, nur eine unwesentliche Verspätung dar. Der Zug hält bloß an wenigen Stationen, und am längsten bleibt er im Ort Dobova stehen, der nicht mehr als 720 Einwohner zählt und den Grenzübergang zwischen Slowenien und Kroatien bildet. Nachdem Ungarn im Herbst 2015 seine Grenze gegen Kroatien mit Stacheldraht gesichert hatte, wurde Dobova für einige Monate berühmt, weil Abertausende Flüchtlinge hier über die Schengengrenze gelangen wollten, welche die beiden EU-Staaten Slowenien und Kroatien trennt. Aber das ist eine Weile her, und über Dobova, das auf der slowenischen Seite liegt und auch die kroatischen Grenzbehörden beherbergt, scheinen längst wieder der pannonische Staub und der historische Schlaf gesunken zu sein, von denen viele Dichter behauptet haben, die beiden wären die natürlichen Elemente der Region.

Softwarefirmen träumen von Computerprogrammen, die ganze Bevölkerungen erfassen

Ich reise jedes Jahr zwei, drei Mal diese Strecke hin und wieder zurück, weil mir Zagreb in seiner Mischung aus Behäbigkeit und Elan, aus kakanischer Anmutung und umtriebiger Modernität lieb geworden ist und ich dort mit kroatischen Freunden einige Projekte verfolge. Selbst die Verzögerung beim Grenzübertritt empfinde ich mittlerweile als charmant, etwa wenn ich aus dem Fenster die Grenzpolizisten am Bahnsteig dabei beobachten kann, wie sie zuerst ihre Wurstsemmeln fertig essen und sich beim Rauchen zum übernationalen Plausch zusammenfinden, ehe sie die Waggons erklimmen.

Hier, in dieser Station in der Provinz, ist mir zum ersten Mal eine epochale Veränderung aufgefallen. Die Grenzer nehmen die Pässe, aber ihr Blick gilt einzig diesen, nicht mehr ihren Inhabern. Sie haben stets einen tragbaren Hochleistungscomputer bei sich. Von diesem lassen sie überprüfen, ob es sich dabei um eine Legitimation handelt, die europaweit anerkannt ist und dem, der sie bei sich hat, das Recht auf Ein- und Ausreise gestattet. Binnen weniger Sekunden vergleicht der Computer Millionen Daten, und da mein österreichischer Reisepass von einer befugten Behörde ausgestellt wurde, brauche ich nicht in Unruhe zu geraten. Denn der Computer wird nicht irren, wozu haben wir ihn schließlich erfunden!

Als ich jung war, haben die Grenzbeamten den Pass stets lange in ihren Händen gehalten und abwechselnd das Foto und das Antlitz des Menschen betrachtet, der vor ihnen stand und sich, je länger er so da stand, immer unbehaglicher fühlte. Während man in Augenschein genommen wurde, quälte man sich mit einer philosophischen Frage: Bin ich mit mir identisch oder sehe ich mir wenigstens so ähnlich, dass es die Obrigkeit überzeugen wird? Dabei waren wir weder als Flüchtlinge unterwegs, noch wollten wir illegal das Land und die Identität wechseln, um uns anderswo ein besseres Leben aufzubauen.

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Der Mediävist Valentin Groebner hat die geradezu unterhaltsame Studie "Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters" veröffentlicht. Es war ein langer Prozess, in dem der Staat nach und nach lauter Individuen in der ihm untertänigen Masse zu identifizieren lernte, und zur Unterscheidung seiner Untertanen dienten in den amtlichen Dokumenten oft Merkmale wie: "Trägt eine rote Mütze".

Der Augenschein kann bekanntlich trügen, er wird von subjektiven Einstellungen, positiven wie negativen Vorurteilen beeinflusst. Der Grenzbeamte von früher mochte etwas gegen Langhaarige haben, und der von heute könnte ein Ressentiment gegen Menschen hegen, deren Aussehen ihm fremd anmutet. Bei einem Computerprogramm, wiewohl es ja Menschen sind, die es programmierten, glauben wir eine solche Fehleranfälligkeit nicht befürchten zu müssen. Um den menschlichen Faktor aus ihm zu tilgen, wird das erste Programm mittels eines zweiten überprüft, objektiviert, verbessert; und damit sich nicht neuerlich die dem Menschen eigenen Schwächen hineinschwindeln, handelt es sich dabei um ein computergeneriertes Programm.

Der Apparat soll es richten, rote Mütze, echter Pass hin oder her. Wer jemand sei, das ist freilich eine Frage, die sich nicht nur Grenzbeamten stellt, denn die digitale Vermessung macht längst vor keiner Grenze mehr halt. Ein chinesisches Computerprogramm hat vor ein paar Jahren unter den Fotografien von rund 2000 Menschen angeblich treffsicher herausgefunden, welche von ihnen Straftäter zeigten.

Höhere Ziele haben sich Softwarefirmen gesetzt, die den Politikern nicht weniger als die Zukunft verkaufen wollen: Programme nämlich, die die gesamte Population einer Stadt, eines Staates fotografisch archivieren und nicht danach durchsuchen, wer eine Straftat begangen hat, sondern wer künftig eine begehen könnte. Über diese Kriminellen, die der Taten überführt werden, die zu verüben sie noch keine Gelegenheit fanden, werden bald nicht mehr fehlbare Richter das Urteil sprechen, sondern Algorithmen. Denn damit es besser, sicherer, gerechter werde auf der Welt, gilt es, endlich die Fehlerquelle Nummer eins auszuschalten, den Menschen.

© SZ vom 05.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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