Regierungserklärung:Merkel setzt auf volles Risiko

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Kanzlerin Merkel will keine Politik der kleinen Schritte mehr machen, sondern geht eine gigantische Wette auf die Zukunft ein.

Stefan Braun, Berlin

Es gibt in der Biographie von Angela Merkel eine Episode, die bis heute erzählt wird, wenn es um Merkels Mut geht. Es ist die Geschichte ihres Sprungs vom Dreimeterbrett.

Bundeskanzlerin Angela Merkel: (Foto: Foto: AP)

Als Teenager hatte Merkel eine ganze Schulschwimmstunde mit der Frage zugebracht, ob sie den Sprung wagen sollte. Erst als die Stunde vorbei war, ging sie nach vorn und sprang. Sie war also weder mutig noch absolut feige.

Bislang passte das auch zu ihrer politischen Karriere. Nie hat sie sich ganz versteckt; aber sehr selten hat sie mutig die Fahne getragen. Damit könnte es jetzt vorbei sein.

Merkels Regierungserklärung zum Start in ihre zweite Legislaturperiode markiert eine neue Zeitrechnung. Die Kanzlerin will keine Politik der kleinen Schritte mehr machen, wie noch vor vier Jahren. Sie setzt auf eine Politik mit vollem Risiko, made by Angela Merkel.

Zu spüren ist das an Tonlage und Inhalt. Aus einer CDU-Vorsitzenden, die an eine freundliche Volkshochschullehrerin erinnert, soll eine Anführerin mit dem Mut zu riskanten Experimenten werden. Aus der alle umarmenden Kanzlerin der großen Koalition soll eine Regierungschefin werden, die "gegen alle Widerstände" für ihre Überzeugungen eintritt. Aus den Versuchen, sich der Lösung eines Problems vorsichtig anzunähern, wird ein Kurs, bei dem sie bewusst alles aufs Spiel setzt.

Merkel verabschiedet sich von allen Tugenden einer schwäbischen Hausfrau. Sie macht eine gigantische Wette auf die Zukunft - ohne zu wissen, ob das gutgeht. Wer fürchtete, die nächsten Jahre könnten politisch langweilig werden, kann sich freuen: Merkel hat sich neu eingekleidet - und den Boxring betreten.

Das gilt vor allem für ihren Umgang mit dem größten Problem der nächsten Jahre, der gigantischen Staatsverschuldung. Merkel hat die Idee, jetzt zu sparen, vom Tisch gewischt, als handele es sich um ein lästiges Staubkorn. Sie setzt alles auf Wachstum, senkt dafür die Steuern - und verschiebt den Schuldenabbau in die Zukunft. Das kann gutgehen, aber es kann auch ins finanzpolitische Debakel führen. Merkel selbst sagt, dass sie keine Ahnung hat, ob es klappt. So viel Chuzpe hat es von einem deutschen Regierungschef selten gegeben.

Der politischen Auseinandersetzung muss das nicht schaden. Im Gegenteil. Schon am Dienstag konnte man merken, dass sich nach Jahren des Kleinkleins in der großen Koalition wieder große Trennlinien auftun. Es geht nicht mehr nur um Machtfragen, es geht um die Durchsetzbarkeit und den Erfolg von Konzepten.

Nicht nur Merkel, auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gab sich ungewöhnlich emotional; die Kontraste zwischen den schwarz-gelben Steuer- oder Gesundheitsplänen und den sozialen Brüchen, vor denen die anderen warnen, treten wieder scharf zutage. Gestritten wird nicht mehr um Nickligkeiten. Gestritten wird um das künftige soziale Klima in der Gesellschaft. Diesem Duell stellt sich Merkel jetzt. Endlich.

© SZ vom 11.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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