Referendum in der Türkei:Ein Land, das mit sich ringt

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Ein denkbar knappes Ergebnis, die Anhänger Erdoğans feiern es wie einen großen Sieg. Doch ein großer Teil des Landes dürfte nun das Gefühl haben, um die Zukunft gebracht worden zu sein.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Cengiz Çetin hat seinen Fiat in zweiter Reihe vor der AKP-Zentrale in Istanbul geparkt. Da stehen auch schon alle anderen Autos. Der 39-Jährige holt die rote Türkei-Fahne raus. Es ist sein Tag heute. "Europa und die Welt können von uns lernen." Was? "Siegen!" Er will jetzt rüber zu den Feiernden. Die Musik ist ohrenbetäubend laut. Ständig funkt und knallt es um ihn herum.

Es ist 22 Uhr am Sonntagabend. Die Türkei bekommt jetzt ein neues politisches Betriebssystem. Das Land geht über zum Präsidialsystem, das fast alle Macht in die Hände von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan legen wird. Für dessen Anhänger, Menschen wie Çetin, muss das gefeiert werden. Es wird nur dann kurz ruhig, als Erdoğans Auftritt vom anderen Ende der Stadt per Großbildschirm live übertragen wird. "Das Land ist heute wie neugeboren", sagt Çetin.

Die ersten Ergebnisse am Abend lassen zunächst einen erdrutschartigen Sieg für das Regierungslager um Erdoğan erwarten. Das regierungsnahe Blatt Yeni Şafak veröffentlichte erste Teilergebnisse lange bevor die Wahlbehörde dies überhaupt erlaubt: Da stand es etwa 65 zu 35 Prozent. Die Ja-Sager weit vorne.

Bilder vom Referendum
:Proteste in Istanbul, Jubel im Ja-Lager

Die Entscheidung ist gefallen - die Türkei hat für die Verfassungsreform gestimmt - und das Ergebnis spaltet das Land.

Aber der Vorsprung schrumpft im Laufe des Abends auf ein, zwei Prozentpunkte. Er fällt jedenfalls so knapp aus, dass genau das eintritt, was viele befürchtet haben: Zweifel kommen auf. Und eine Frage: Ging denn alles mit rechten Dingen zu?

Zumindest in Istanbul begann dieser "Tag der Entscheidung" erst einmal entspannt. Der Wahlkampf war vorüber. Eine wohltuende Stille hatte sich über die Istiklal, die Einkaufsstraße im Zentrum auf der europäischen Seite der Stadt gelegt. In einem der schönsten Wahllokale, der Atatürk-Bibliothek, standen die Leute mucksmäuschenstill an, um nacheinander in den Wahlboxen zu verschwinden hinter schwerem Tuch.

Im Stadtteil Kasımpaşa, dort, wo Erdoğan aufgewachsen ist, blieb es auch ruhig. Das sagen die Wahlbeobachter dort. Istanbul zeigte sich bis zur Schließung der Wahllokale jedenfalls ziemlich entspannt. Und danach saßen die Leute vor dem Fernseher.

Und zunächst schien ja alles ganz klar. Das Ja-Lager führte mit Abstand. Doch mit jeder Stunde holte das Nein-Lager auf. Aber laut veröffentlichten Ergebnissen reicht es am Ende nicht ganz. In den sozialen Netzwerken kursieren Videos, die angeblich eine Manipulierung von Wahlzetteln zeigen soll.

"Sie manipulieren die Ergebnisse"

Die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, stellt die Legitimität der Wahl ohnehin schon infrage, bevor das Endergebnis überhaupt feststeht. Die in letzter Minute getroffene Entscheidung der Wahlbehörde, auch Stimmzettel zu zählen, die kein offizielles Siegel tragen, werfe ein "schweres Legitimitätsproblem" auf. Der CHP Partei-Vize Erdal Aksünger erhebt schwere Vorwürfe: "Sie manipulieren die Ergebnisse." Die staatsnahen Sender würden andere Zahlen als Zwischenergebnisse berichten als ihm gemeldet würden. Er forderte die Wahlbeobachter seiner Partei auf, nicht die Plätze an den Urnen zu verlassen.

Auch Tuna Bekleviç, Vorsitzender der eigens fürs Referendum gegründeten Nein-Partei, zweifelt das Ergebnis an. Wochenlang war er durch die Türkei gereist und hatte versucht, auch die Erdoğan-Anhänger davon zu überzeugen, dass diese Verfassungsreform ein Fehler sei. "Nach den Daten, die uns vorliegen, ist das Nein-Lager vorne", sagte Bekleviç der Süddeutschen Zeitung. "Unsere Nation soll bis zum letzten Moment die Urnen bewachen und später Widersprüche einlegen." Die Wahlbehörde führe das Land in eine Katastrophe, weil sie die Nein-Stimmen zurückhalte.

Das Ergebnis zeigt in jedem Fall, wie sehr das Land mit sich ringt. Auch wenn in Istanbul und Ankara die Regierungsanhänger knapp gewonnen haben sollen, die Bürger müssen weiter zusammen in einer Stadt leben. Das dürfte schwierig genug werden. Denn ein großer Teil des Landes dürfte nun das Gefühl haben, um die Zukunft gebracht worden zu sein.

Erdoğan und sein Regierungschef Binali Yıldırım, der mit Inkrafttreten der Reform arbeitslos werden wird, hatten sich auf den letzten Metern des Wahlkampfs noch einen kleinen Schritt auf das Nein-Lager zubewegt. Sie würden ihre Entscheidung respektieren, hieß es. Bis dahin hatten sie die Gegner vor allem in die Nähe von Terroristen gerückt und kriminalisiert.

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Jetzt stellt sich eher die Frage, ob die Reformgegner ein "Ja" so einfach akzeptieren wollen - noch dazu, wenn es so viele Zweifel am Ergebnis gibt. Der Chef der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, sagte in der Nacht: "Dieses Referendum hat eine Wahrheit ans Licht gebracht: Mindestens 50 Prozent dieses Volkes hat dazu "Nein" gesagt". Seine Anhänger sind sauer. Nicht nur auf Erdoğan, auch auf ihren eigenen Chef. Er hatte einen zurückhaltenden Wahlkampf geführt. Spätestens jetzt hätten sie sich deutlichere Worte gewünscht. Die finden sie dann selbst: "Kemal tritt zurück!"

Es ist aber auch nicht der eindrucksvolle Sieg, den sich die AKP-Anhänger gewünscht hatten. Und auch der Vize-Ministerpräsident Veysi Kaynak räumte ein: "Wir sehen, dass wir in manchen Provinzen nicht die erwartete Anzahl an "Ja"-Stimmen bekommen haben." Aber Mehrheit sei eben Mehrheit. "In allen Demokratien ist der ausreichende Anteil 50,1 Prozent." Auch AKP-Anhänger Cengiz Çetin sagt, die Gegner müssten das Ergebnis respektieren. Nach einer Weile würden auch "die anderen 50 Prozent" verstehen, warum die Reform gut fürs Land sei.

Es ist schon eine Überraschung, dass die Reformgegner überhaupt so weit gekommen sind. Kaum ein anderer Wahlkampf galt als derart unfair. Erdoğan führt das Land seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer unter dem verhängten Ausnahmezustand. Die Freiheitsrechte der Bürger sind eingeschränkt. Trotzdem bestand er auf dem Referendum, es musste jetzt sein.

Bereits vor der Abstimmung hatten die Wahlbeobachter der OSZE beklagt, dass die Opposition daran gehindert würde, Wahlkampf zu machen. Das Führungspersonal der oppositionellen kurdischen HDP, einer der schärfsten Gegner von Erdoğans Präsidialsystem, sitzt wegen des Terrorverdachts seit Monaten im Gefängnis. Das Ja-Lager konnte sich sämtlicher Staatsressourcen bedienen. Der Samstag vor der Abstimmung war quasi Erdoğan-TV, so viele Stunden war er auf Sendung. Am heutigen Montag wollen die OSZE-Wahlbeobachter ihren Bericht vorlegen. Ihm kommt jetzt ganz besondere Bedeutung zu.

Immer mehr Anhänger des Präsidenten drängt es auf die Straßen. Obwohl es Diskussionen, Unstimmigkeiten und noch kein offizielles Ergebnis gibt, halten Erdoğan und Yıldırım schon Siegesreden. Die Uferstraße am AKP-Hauptquartier ist bald schon verstopft, so viele Anhänger wollen jetzt hier her. Die Nacht wird lang. Wenn die Türkei aufwacht am Tag nach dem Referendum, ist Erdoğans Traum von einer neuen Türkei noch ein Stück weiter Realität geworden.

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