Botschaften von Neonazis:Was man über die Drohungen im Namen des "NSU 2.0" weiß

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Hessens Landespolizeipräsident Udo Münch (M.) trat im Zuge der Affäre um die Drohungen diese Woche zurück. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Mit einem Fax an eine Frankfurter Rechtsanwältin und einer Drohung fing es an. Noch bedrohlicher sollte sein, was Ermittler herausfanden. Die Spur führte sie in das 1. Polizeirevier in Frankfurt.

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Das Schreiben, mit dem alles anfing, kam per Fax. Am 2. August 2018 um 15.41 Uhr erreichte es die Kanzlei von Seda Başay-Yıldız. Es enthielt wüste Beschimpfungen und, unter Anspielung auf den Fall eines islamistischen Gefährders, den die Frankfurter Rechtsanwältin verteidigt hatte, eine erschreckend konkrete Drohung: "Als Vergeltung für 10 000 Euro Zwangsgeld schlachten wir deine Tochter". Es folgten der Vorname der damals Zweijährigen und die korrekte Wohnanschrift der Anwältin. Als Absender firmierte: "NSU 2.0". Başay-Yıldız vertritt im Prozess gegen die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" die Familie des Mordopfers Enver Şimşek.

Dass der anonyme Absender den Namen ihrer Tochter und ihre Privatadresse kannte, war für Başay-Yıldız besonders bedrohlich - und noch bedrohlicher sollte sein, was Ermittler des hessischen Landeskriminalamts (LKA) in den folgenden Wochen herausfanden. Die Spur führte sie in das 1. Polizeirevier in Frankfurt, gelegen an der Hauptgeschäftsstraße Zeil. Dort waren Başay-Yıldız' Daten im Sommer grundlos in einem Dienstcomputer abgerufen worden - von welchem der Polizisten genau, ist nicht ausermittelt. Eine Beamtin war offenbar eingeloggt, aber die Abfrage konnte ihr nicht nachgewiesen werden.

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Die Fahnder stießen dabei auch auf eine Whatsapp-Gruppe, in der Polizisten aus dem 1. Revier Hakenkreuze und andere rechtsextremistische Inhalte austauschten. Gegen sechs Polizisten wird deswegen ermittelt, einer der Beamten wurde im Juni 2019 vorläufig festgenommen unter dem Verdacht, an der Versendung des Drohschreibens beteiligt gewesen zu sein. Bis auf einen der sechs, der auf eigenes Verlangen entlassen wurde, sind sie suspendiert. Die Verfahren dauern mehr als eineinhalb Jahre später immer noch an, ohne dass es zu einer Anklage gekommen wäre.

Das Droh-Fax blieb kein Einzelfall. Başay-Yıldız hat seither mehr als ein Dutzend ähnliche Drohschreiben erhalten. Aber erst vor zwei Wochen wurde bekannt, dass sie nicht das einzige Opfer von Bedrohungen war, bei denen die Täter auf persönliche Daten zurückgriffen, die allem Anschein nach aus hessischen Polizeicomputern stammten.

Am 15. Februar 2020 ging die erste von mehreren Mails bei Janine Wissler ein, in denen der Fraktionschefin der Linken im hessischen Landtag ein "Tag X" angedroht wurde, an dem die Polizei sie nicht mehr beschützen können werde. Wieder taucht die Formel "NSU 2.0" auf, wieder enthält das Schreiben neben üblen Beschimpfungen Informationen über die Adressatin, die öffentlich nicht zugänglich sind - etwa ihre Wohnadresse. Und wieder führte eine Spur in ein hessisches Polizeirevier: Wenige Tage bevor die Politikerin das Drohschreiben erhielt, wurden ihre persönlichen Daten auf einem Polizeicomputer in Wiesbaden abgefragt - unter der Kennung eines Polizeibeamten, der jedoch abstreitet, die Abfrage gestellt zu haben.

Erst danach wurde ein weiterer Fall öffentlich. Bereits im März 2019 erhielt auch die Berliner Kabarettistin İdil Baydar Drohungen, sie werde "abgeknallt". Noch mehr derartige Hassschreiben gingen per SMS bei ihr ein, als bekannt wurde, dass sie im November 2019 in Frankfurt eine Rede halten würde zum Gedenken an den rassistischen Brandanschlag von Mölln, bei dem 1992 drei Menschen ermordet wurden. Der Autor dieser Drohungen nannte sich nicht "NSU 2.0", sondern "SS-Obersturmbannführer". Doch wieder wurden kurz vorher, nämlich im März 2019, persönliche Daten Baydars ohne dienstlichen Grund auf einem Polizeicomputer abgerufen - dieser stand laut Frankfurter Rundschau offenbar in Frankfurts 3. Polizeirevier.

Zwei weitere Linken-Politikerinnen, die Bundestagsabgeordnete Martina Renner und die Berliner Landesfraktionsvorsitzende Anne Helm, erhielten ebenfalls Schreiben, die Todesdrohungen enthielten, dazu persönliche Daten, die öffentlich eigentlich nicht zugänglich sind - und die Unterschrift "NSU 2.0". Eine Verbindung zur Polizei ist bislang in diesen beiden Fällen nicht aufgefallen. Weitere "NSU 2.0"-Mails richteten sich an Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und seinen Innenminister Peter Beuth (beide CDU).

Beuth wiederum griff nun direkt in die Ermittlungen ein. Am Freitag ernannte er einen Sonderermittler. Hanspeter Mener, bisher Direktor der Kriminaldirektion im Polizeipräsidium Frankfurt, leitet jetzt die Ermittlungen, zu denen sich zeitweise bis zu 60 Beamte in der Arbeitsgruppe "AG 21" im LKA zusammengefunden hatten - eine Konsequenz daraus, dass sich der Innenminister nicht ausreichend über deren Arbeit informiert fühlte. Am Dienstag zwang er Landespolizeipräsident Udo Münch zum Rücktritt. Der Grund: Es war herausgekommen, dass das LKA dem Landespolizeipräsidium bereits in einer Videokonferenz am 5. März von der unberechtigten Abfrage der Daten Wisslers in Wiesbadens Polizei berichtet hatte.

© SZ vom 16.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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