Man hatte es fast vergessen: Er kann also doch auch anders. Wladimir Putin schüttet ein Füllhorn barmherziger Worte aus, und dass er dafür die Jahrespressekonferenz wählt, in der mehr als 1300 Journalisten lauschen, lässt all dies nur noch kalkulierter wirken. Russlands Präsident wendet auf die zwei inhaftierten Frauen von Pussy Riot ein frisches Amnestiegesetz an, die Greenpeace-Aktivisten dürfen Weihnachten zu Hause verbringen. Wichtiger noch aber ist die angekündigte Begnadigung von Michail Chodorkowskij, dem Putin bisher so verhassten Oligarchen und Erzfeind, der nicht mehr daran geglaubt hatte, aus dem Munde des Kremlchefs noch erfreuliche Nachrichten zu erfahren. Wird aus Putin nun ein sanfter Machtmensch? Nein.
So positiv die Nachrichten klingen, sie entspringen offensichtlich aus einer akuten Notlage und sind mit Blick auf die bekannten Fälle auch nicht ganz so gnädig, wie sie erscheinen. Die Pussy-Riot-Frauen müssten spätestens im März ohnehin aus der Haft entlassen werden, der Prozess gegen die Greenpeace-Hasardeure entbehrt nach dem Urteil des Internationalen Seegerichtshofs jeder Grundlage. Und Chodorkowskij, im Westen seit einem Jahrzehnt Symbol für politische Repressionen und fragwürdige Justiz, müsste spätestens im August freikommen, nach zwei Prozessen, die internationalen Maßstäben eklatant widersprochen haben.
Die Ursache für das vorweihnachtliche Gnadenspektakel dürfte am Fuße des prächtigen Kaukasus-Gebirges liegen, genauer: in Sotschi, wo in wenigen Wochen die Olympischen Winterspiele ausgerichtet werden. Russland hat in den vergangenen Monaten zunehmend gespürt, dass es bei seinen stolzen Spielen nicht nur gewinnen, sondern noch sehr viel mehr auch verlieren kann.
Boykotte gefährden glorreiche Olympia-Sause
Die ganze Kraft, Dynamik, Modernität und Weltgeltung dieses Landes sollten sich in diesen zwei Olympia-Wochen verdichten, das war Moskaus Plan. Stattdessen zeigt sich eine Wucht von ganz anderer Seite, und sie droht Russland zu erdrücken. Debatten über fehlende Demokratie und Rechtstaatlichkeit, über einen autoritären Staat und mangelnde Medienfreiheit, all das hat sich frisch entzündet an einem Anti-Schwulen-Gesetz, das der westlichen Welt all die Unzulänglichkeiten mit einem Mal plastisch gemacht hat.
Putin kann eine Menge aushalten. Ausländische Kritik kann er sogar in politische Siege für das heimische Publikum umwandeln. Nun aber ist sein Kind in Gefahr, das er seit Jahren gepäppelt hat: Sotschi. Die Absagen beziehungsweise das Nichterscheinen des Bundespräsidenten, der amerikanischen Regierung und von französischen Spitzenpolitikern sowie die absehbaren Proteste gefährden für Russland den Nimbus einer glorreichen Olympia-Sause. Es wurde Zeit für Moskau, dem etwas entgegenzustellen. Das Amnestiegesetz, die Begnadigung von Chodorkowskij und freie Pussy-Riot-Frauen bieten Russlands Führung eine elegante Gelegenheit, die negative Dynamik zu stoppen.
Mit diesen Gesten aber ändert sich keineswegs die Politik, die Kultur des harten Strafens, verschwindet nicht die Praxis fragwürdiger Prozesse und erblüht auch nicht ein Rechtsstaat. Und das umstrittene "Verbot von Propaganda nicht-traditioneller sexueller Orientierung" bleibt in Kraft. Wenn Sotschi vorüber ist, das vielleicht doch zu einer großen Party werden kann, wenn also der Olympia-Tross das Land verlassen hat, könnte sich vielmehr das Klima schnell wieder verschlechtern.
Auch der ehemalige Ölkonzern-Chef Chodorkowskij darf sich trotz der Begnadigung nicht allzu sicher fühlen. Sollte er dem Kreml unbequem werden und dessen Machtbasis gefährden, dann kann auch seine Freiheit wieder zu Ende gehen.