Prantls Blick:SOS für die Bürgerrechte

Lesezeit: 4 Min.

Den Schutz der Bürgerrechte überlässt die Politik dem Bundesverfassungsgericht. (Foto: dpa)

Eine Republik ohne Rechtspolitik - was bei den Sondierungs- und Koalitionsgesprächen fehlt.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit politischen Themen, die in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant sind. Hier können Sie "Prantls Blick" als wöchentlichen Newsletter bestellen - mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Wenn Magazine und bunte Blätter nicht mehr wissen, was sie schreiben sollen, dann hilft ihnen eine Frage weiter: "Was macht eigentlich...?" Und dann folgt ein Name aus dem Schlager- oder Showgeschäft, eine Nicki, eine Gitte oder eine Nicole, manchmal auch ein Name aus Politik und Wirtschaft, an den man sich dunkel erinnert. Aber man weiß nicht mehr, ob man den Namen mit einem Scheidungs- und Rosenkrieg, einem Korruptionsskandal oder mit dem Schlager vom knallroten Gummiboot in Verbindung bringen soll.

Dass Menschen ins Rampenlicht rücken und daraus wieder verschwinden, das gehört zum Lauf der Welt. Dass ein ganzes Politikfeld aus der Öffentlichkeit verschwindet - das ist neu. Und dass es ausgerechnet der Rechtspolitik so ergeht, die jahrzehntelang in der Bundesrepublik so ungeheuer wichtig war (und die mir immer angelegen war), das bekümmert mich.

Ich schreibe das, weil in den Sondierungsgesprächen der potentiellen Jamaika-Koalitionäre, die nun zu Ende gehen und die die Inlands-Nachrichten beherrschen, von Rechtspolitik nicht die Rede ist. Zum Auftakt der neuen Woche ist es daher veranlasst, eine Vermisstenanzeige zu erstatten: Die Bürgerrechte sind verschwunden. Deren Pflege überlässt die Politik offenbar voll und ganz dem Bundesverfassungsgericht. Die Schwäche des Asylrechts hängt damit zusammen: Es gibt große Sorge um den Fortbestand des Zugangs zum individuellen Asylrecht in Europa. Aber es gibt immer weniger Rechtspolitiker, die dieses Recht verteidigen.

Selbst die erregendsten Debatten etwa über Sexismus in der Gesellschaft finden heute ohne Rechtspolitik und ohne Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker statt - gerade so, als habe es die großen Debatten über Frauenrechte, über Emanzipation, über die Reform des Sexualstrafrechts, über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, über Stalking und dessen Ahndung, über ein frauen- und kinderfreundlicheres Familienrecht und über ein familienfreundliches Arbeitsrecht nie gegeben.

Zu konstatieren ist das Verschwinden der Rechtspolitik, die in der deutschen Politik jahrzehntelang tonangebend war. Zwar gibt es nach wie vor genügend Juristinnen und Juristen im Bundestag und in den Führungszirkeln der Parteien. Aber die sind entweder auf einem anderen Politikfeld unterwegs oder mit juristischem Krimskrams beschäftigt. Das gilt für alle Parteien. Der BACDJ, der Bundesarbeitskreis Christlich Demokratischer Juristen, war einmal eine Institution, deren Treffen Aufsehen erregten. Heute kommt das Kürzel BACDJ in der Berichterstattung nicht mehr vor. Günter Krings, der derzeitige Vorsitzende, taucht in dieser Funktion in den Meldungen nicht mehr auf. Bei den Grünen gibt es einen Link "rechtgruen", aber da findet man nicht viel. Bei der FDP sind die bekanntesten Rechtspolitiker, Gerhard Baum und Burkhard Hirsch, über 85; die zwanzig Jahre jüngere Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat sich aus dem aktiven politischen Geschäft zurückgezogen.

Bei der SPD war die AsJ, die Arbeitsgemeinschaft für sozialdemokratische Juristen, einmal die Abteilung für neue Ideen in der Partei, für ihre Entwicklung und Markteinführung. Heute ist sie die Arbeitsgemeinschaft der Einflusslosen und Unbekannten. In dieser AsJ haben einst die großen Rechts- und Gesellschaftsreformen ihren Anfang genommen, die Deutschland geprägt und das Bundesverfassungsgericht rauf und runter beschäftigt haben. Vielleicht nimmt in der SPD kaum mehr etwas seinen Anfang, weil es diese Rechtswerkstatt nicht mehr gibt.

Die großen SPD-Namen der ersten fünfzig Jahre Bundesrepublik - es waren alles (auch) Rechtspolitiker: Kurt Schumacher, Elisabeth Selbert, Georg August Zinn, Adolf Arndt, Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel. Die SPD-Justizminister haben sich nicht als Notare der Bundesregierung verstanden, sondern als Rechtspolitiker, als Politiker also, für die das Recht der Motor und Transformator zur Verwirklichung der Staatsprinzipien und der Grundrechte war.

Die längste Zeit der Bundesrepublik war geprägt von großen rechtspolitischen Debatten: In den fünfziger Jahren zur Wiederbewaffnung, zur betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmung und zur Umsetzung des Gleichberechtigungsgebotes. In den Sechzigerjahren zur rechtlichen Aufarbeitung der Naziverbrechen, zur Pressefreiheit und zu den Notstandsgesetzen. In den Siebzigerjahren zur Frage, was es bedeutet, mehr Demokratie wagen zu wollen; dazu kamen die Mietrechtsreform, die große Strafrechtsreform und die Reform des Paragrafen 218 (Strafgesetzbuch). In den Achtzigerjahren die Einführung einer neuen Sozialversicherung, der Pflegeversicherung; damit begann damals die Diskussion um die Aufgaben und Grenzen des Sozialstaates.

Seit den Neunzigerjahren aber ist eine Wende zu vermerken, nicht nur die Wende zur wieder gemeinsamen Staatlichkeit von Ost und West. Wann ist eine Demokratie eine gute Demokratie? Was macht - angesichts veränderter gesellschaftlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen - einen Rechtsstaat, was macht einen Sozialstaat aus? Das wird immer weniger diskutiert. Rechtspolitik im Kontext der deutschen Einheit beschränkte sich so auf die komplizierte, vornehmlich technisch beantwortete Frage der Umsetzung und Implementierung westdeutschen Rechts in die nun gemeinsame Rechtsordnung. Währenddessen machte sich unter innenpolitischen Vorzeichen Schritt für Schritt ein Thema breit, das immer beherrschender wurde: die innere Sicherheit - und mit ihr die Frage, wie Gefahren von Deutschland abgewehrt werden können. Die Innenpolitik strotzte auf einmal von angeblichen Gefahren; die Rechtspolitik wurde von einer gefahrenabwehrenden Innenpolitik feindlich übernommen.

Es hat sich eingebürgert, die Rechtspolitik in einem Atemzug mit der Innenpolitik zu nennen und sie damit synonym zu setzen. Justizressorts wurden für so leichtgewichtig erachtet, dass man sie mit anderen Ressorts zusammenlegte. Warum erlangen deren Minister nur noch dann einen Bekanntheitsgrad, wenn ihnen Gefangene über die Gefängnismauern springen oder jemand nach Haftentlassung neue Straftaten begeht - oder dann, wenn man die Justiz mit dem Verbraucherschutz zusammenlegt? Weil der Rechtspolitik mittlerweile, so scheint es, immer mehr der Inhalt abhandenkommt, weil die Rechtspolitik vielen nur noch als rechtsförmiger Mantel erscheint, der anderen Politikfeldern Façon gibt, der Rechtspolitik selbst aber kein eigener Impetus mehr zugemessen wird.

Nun könnten Sie mir vorwerfen, dass da ein leidenschaftlicher Jurist über den Bedeutungsverlust seines Fachgebietes klagt. Aber das ist es nicht: Das Verschwinden der Rechtspolitik ist ein Kulturverlust. Und man merkt diesen Kulturverlust den gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland an.

Gute Rechts- und Innenpolitik betrachtet die Grundrechte als Wegweiser. Wo bleibt also die Neugründung von Daten- und Persönlichkeitsschutz in den Zeiten der sogenannten sozialen Netzwerke? Wo bleiben die Überlegungen zu einer schutzstabilen Konstruktion des europäischen Flüchtlingsrechts? Wo bleiben die Konzepte dazu, wie es mit dem Grundgesetz und der EU weitergeht? Wo bleiben die Gedanken über verträgliche Plebiszite, über Volksabstimmungen bis hinauf zur europäischen Ebene? Will die Politik darauf warten, dass dergleichen vom Verfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof vorgeschrieben wird?

Die letzte Regierungserklärung, in der stand, "wir wollen einen Staat, der die Bürgerrechte schützt und erweitert" stammt aus dem Jahr 1998. Das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Es ist Zeit für ein SOS. SOS für die Bürgerrechte. Helfen Sie bei der Rettung.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Bundesverfassungsgericht zu Intersexualität
:Das dritte Geschlecht - eine Revolution

Das Bundesverfassungsgericht beendet die bloße Mann-Frau-Betrachtung der Geschlechtlichkeit im deutschen Recht. Das ist ein historischer Spruch.

Kommentar von Heribert Prantl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: