Prantls Blick:Der Verrat an den Alten - und an denen, die sie pflegen. Ein Notruf

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Oft übernehmen Frauen den Großteil der Sorgearbeit. (Archivbild) (Foto: David Hecker/dpa)

Zum entwürdigenden Umgang mit den Alten kommt der entwürdigende Umgang mit den Menschen, die die Alten pflegen. Auch das Helfen hat seine Würde. Sie darf nicht untergraben werden.

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Am kommenden Sonntag ist der Welttag der Kranken und zugleich der Europäische Tag des Notrufs. Diese Tage fallen heuer mitten in die närrische Zeit - Weiberfastnacht, Rosenmontag, Faschingsdienstag. Es ist dies eine Zeit, die dafür da ist, dem Ärger und dem Leid die Zunge herauszustrecken. Das hilft manchmal für kurze Zeit, das kann Herz und Seele erleichtern. Aber ein Notruf hilft, aufs Ganze gesehen, mehr als die herausgestreckte Zunge - wenn er denn gehört und wenn darauf richtig reagiert wird. Die Verhandler von CDU/CSU und SPD bei den Koalitionsgesprächen haben einige Notrufe gehört. Der erbarmenswürdigste Notruf ist der Pflegenotruf - der Ruf also, der den Pflegenotstand anzeigt und danach ruft, den Verrat an den alten Menschen und an einem für sie geschriebenen Gesetz zu beenden. Dieses Gesetz heißt "Betreuungsgesetz" und es ist seit 26 Jahren in Kraft, seit dem 1. Januar 1992.

Wegweiser zum Vorfriedhof

Dieses Betreuungsgesetz ist eine der größten legislativen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Das neue Recht wollte die rechtliche Geringschätzung der Menschen beenden, es wollte und will persönliche Betreuung an die Stelle anonymer Verwaltung und Verwahrung setzen. Es sollte ein Leuchtturm-Gesetz sein; und der Leuchtturm sollte den Weg nicht zum Vorfriedhof, sondern zu einem würdigen Leben im Alter weisen. Das Betreuungsgesetz war das richtige Signal zur richtigen Zeit, aber die Zeit hat es nicht richtig begriffen. Das Betreuungsgesetz war ein Gesetz, das rechtzeitig die Probleme erkannte, die auf die Gesellschaft zukommen. Aber: Das Gesetz wurde und wird finanziell ausgehungert. Betreuern mangelt es an Zeit und an ordentlicher Vergütung. Und an den alten Zuständen in den Alten- und Pflegeheimen hat sich trotz neuer Paragrafen wenig geändert.

Ist verwirrt, wer einen Bahnhof kauft?

Es ist schon einige Zeit her, dass ich aus meinem Amtszimmer im Landgericht Regensburg ausgezogen und Journalist geworden bin. An einen meiner letzten Fälle als Richter erinnere ich mich noch heute gut; er hatte mit dem alten Vormundschaftsrecht zu tun. Ich war in einer Beschwerdekammer tätig und hatte den Fall einer alten Dame zu beurteilen, die ihr Schwiegersohn unbedingt entmündigen lassen wollte. Die Dame hatte einiges Vermögen - und ihr Altersvergnügen bestand darin, den einen oder anderen alten und aufgelassenen Bahnhof zu kaufen, weil ihr das ein gutes Schnäppchen zu sein schien. Der Schwiegersohn hielt das für einen gewaltigen Unsinn, für Verschwendung. Die Bahnhofsliebhaberei war für ihn ein Beleg für die Verwirrung der alten Dame.

Nun, das Gericht sah das anders. Die Frau wurde nicht - wie man damals sagte - entmündigt. Wie lange sie noch lebte, weiß ich nicht, auch nicht, ob sie noch einen alten Bahnhof gekauft hat. Ich habe an die alte Dame gedacht, als in den vergangenen Tagen wieder viel über Betreuung, Pflege und Pflegenotstand diskutiert wurde.

Betreuen statt entmündigen

Kurz nachdem ich dann den Richtertisch mit dem Journalistenschreibtisch getauscht hatte, habe ich meinen ersten Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung geschrieben. Er handelte von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit alten und dementen Menschen umgeht und wie sie mit ihnen umgehen sollte; er trug die Überschrift "Betreuen statt entmündigen" - und er begann so:

"Noch immer gibt es archaisches Recht in der Bundesrepublik Deutschland. Da sind Menschen, die ein Leben in Pflichterfüllung gelebt haben. Und dann schließen wir sie aus: Sie dürfen nicht mehr wählen. Sie dürfen nicht mehr heiraten. Das Testament, das sie schreiben, ist unbesehen ungültig. Nicht einmal über Taschengeld lassen wir sie verfügen; denn das Gesetz macht selbst den Kauf von Kaffee und Kuchen unwirksam. Wir murmeln 'altersschwach' oder 'ausgeklinkt' und ziehen diese Menschen aus dem Verkehr, lösen ihre Wohnungen auf, verfrachten sie in Heime. Gar nicht selten bleiben sie so am Leben: am Fuß angebunden bei Tag, im Bett festgeschnallt bei Nacht. Am Türschild steht dann 'Psychiatrie' und in den juristischen Lehrbüchern, 'rechtliche Grauzone'. Das Unglück solcher Menschen aber inserieren wir als amtliche Bekanntmachung in der Zeitung: 'NN, geb. am, wegen Trunksucht auf seine Kosten entmündigt.'"

Die Rede war vom damals geltenden Entmündigungs- und Vormundschaftsrecht. Das Zitat aus meinem damaligen Leitartikel beschreibt die rechtlichen und faktischen Zustände von damals. Die alten Paragrafen wurden dann, wenig später, 1992, vom oben genannten neuen Betreuungsrecht abgelöst. Fesselungen gibt es seitdem nicht mehr oder kaum noch. Aber die große Wende zum Guten gab und gibt es nicht.

Programm-Schrift für eine neue Zeit

Ich habe damals die Paragrafen dieses neuen Gesetzes gelesen wie die Programm-Schrift für eine neue Zeit: "Betreuen statt entmündigen" war ein gutes Motto für Millionen von alten und dementen Menschen. Das hörte sich an wie die Befreiung der alten Menschen. Die neuen Paragrafen sollten ein Hilfsmittel sein bei der Achtung ihrer Würde. Dieses Betreuungsrecht hat das alte Vormundschaftsrecht abgelöst, die Entmündigung abgeschafft und es dem Richter aufgegeben, einem Menschen, der der Betreuung bedarf, für die jeweils spezifischen Bedürfnisse einen Betreuer zur Seite zu stellen, der sich möglichst gut um ihn kümmert.

Viele alte Menschen windeln sich dem Tod entgegen

Das sind, so dachte ich mir damals, die Thesen für einen neuen Sozialstaat. Ich halte dieses Betreuungsgesetz immer noch, 26 Jahre nach seinem Inkrafttreten, für eine der größten legislativen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Es wollte und will persönliche Betreuung an die Stelle anonymer Verwaltung und Verwahrung setzen. Es hat leider nicht funktioniert. Das Wort "Vormundschaft" ist zwar aus der aktuellen juristischen Sprache verschwunden: Seit 2009 heißen die Vormundschaftsgerichte nicht mehr Vormundschaftsgerichte, sondern Betreuungsgerichte. Aber mit der Änderung des Wortes und mit dem neuen Gesetz hat sich an den faktischen Zuständen viel zu wenig geändert. Nach wie vor ist Entwürdigung Alltag. Tabletten werden vergessen oder vertauscht; Hilfe beim Essen ist mühsam; Magensonden bringen Zeitersparnis; viele alte Menschen windeln sich einsam dem Tod entgegen.

Zu dem entwürdigenden Umgang mit den Alten kommt der entwürdigende Umgang mit den Pflegenden. Auch das Helfen hat seine Würde - und diese Würde wird untergraben, wenn man den Menschen, die einmal mit viel Idealismus in den Pflegeberuf gegangen sind, das nimmt, was ihr Ethos ausmacht: sich dem ganzen Menschen zuzuwenden. Stattdessen müssen die Pflegerinnen und Pfleger Module abarbeiten und dieses Abarbeiten dokumentieren.

Ein anderes Bild vom Menschen

Ich wünsche mir einen ernsthaften, würdigen Umgang mit den alten, dementen, hilfebedürftigen Menschen. Ich wünsche mir gute Hilfe und gute Helfer. Das wird nicht nur den Alten gut tun, sondern auch den Kindern. Es wird die Kindheit der Kinder verändern, wenn sie in einer Gesellschaft aufwachsen, die ein anderes Bild vom Menschen entwickelt: Das Menschsein wird nicht am Lineal von Ökonomie und Leistungsfähigkeit gemessen.

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