Sie kennen die sieben Weltwunder des Altertums: Erstens die hängenden Gärten der Semiramis; zweitens den Koloss von Rhodos; drittens das Grab des Königs Mausolos; viertens den Leuchtturm auf der Insel Pharos; fünftens die Pyramiden von Gizeh; sechstens den Tempel der Artemis in Ephesos; siebtens die Zeus-Statue des Phidias von Olympia. Und was sind die sieben Weltwunder der Neuzeit, was sind die sieben Weltwunder von heute? Meine zwei Vorschläge für die aktuelle Weltwunderliste: erstens das Grundgesetz; zweitens das Europäische Parlament.
Im Newsletter am vergangenen Sonntag habe ich von den Verfassungsberatungen auf der Insel Herrenchiemsee erzählt, die vor genau siebzig Jahren begonnen haben: Es wurde das Grundgesetz geformt. Mit der Erinnerung an die Grundgesetztage von Herrenchiemsee beginnt die Einstimmung auf das siebzigste Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai nächsten Jahres. An diesem Tag wird aber nicht nur die Unterzeichnung des Grundgesetzes gefeiert. Es beginnt an diesem Tag, am 23. Mai 2019, in den Staaten der Europäischen Union auch die neunte Direktwahl des Europäischen Parlaments, sie dauert vier Tage. Deutschland wählt am Sonntag, 26. Mai.
Ein bemerkenswertes Zusammentreffen
Das Zusammentreffen der beiden Ereignisse ist ein bemerkenswerter Zufall - das Jubiläum des Grundgesetzes und die Wahl des Europaparlaments: Zwei Weltwunder stehen da nebeneinander. Es sind zwei verwundete Weltwunder: Das Europaparlament wird zerfressen von den neuen alten Nationalismen, es wird zerfressen von Parteien, die aus dem neuen Europa wieder das alte machen, es wieder zerstückeln und die Stücke bewachen wollen. Und das Grundgesetz wird bedroht von immer neuen Sicherheitsgesetzen, die das Freiheitsrecht und die Bürgerrechte zerfressen.
Weltwunder-Verteidigung
In der kommenden Woche versucht eine Verfassungsbeschwerde, einen neuen Schutz- und Heilungsprozess für die Freiheits- und Bürgerrechte einzuleiten. Der Datenschutzverein Digitalcourage legt beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen den Staatstrojaner ein. Die Datenschützerin Rena Tangens, Ehrenvorsitzende des Hamburger Chaos Computer Clubs, und der Netzaktivist Padeluun, der nur unter diesem Pseudonym auftritt, werden sie dem Gericht übergeben - zusammen mit den Verfassern der Klageschrift, den Rechtsprofessoren Jan Dirk Roggenkamp und Frank Josef Braun. Es ist dies eine Weltwunder-Verteidigungsinitiative. Dutzende, Hunderte solcher Initiativen und Aktionen sollte es bis zum Mai nächsten Jahres geben - für die Bürgerrechte, und für Europa.
Die beste Krücke der Geschichte
Das Grundgesetz hat mehr, sehr viel mehr geleistet, als man ihm seinerzeit zugetraut hat: Als dieses Werk, von allen als Provisorium betrachtet, 1949 in Kraft trat, schrieb der Kommentator der Süddeutschen Zeitung, offenbar wenig überzeugt von der Sache, von einer "Krücke" des neuen Staates Bundesrepublik. Mit dieser Krücke aber haben die Deutschen das Laufen in der Demokratie gelernt. Das Grundgesetz war und ist eine Anleitung, wie sie weltweit ihresgleichen sucht; und dass das so war und ist, liegt nicht nur am Text, sondern auch am Bundesverfassungsgericht, weil es die Grundrechte entfaltet und ihnen Kraft gegeben hat.
Indes: Das Grundgesetz ist dabei, diese hervorragendsten Eigenschaften, also seinen Grundsatz-Charakter, zu verlieren: Der neue Artikel 13, mit dem 1998 die Verletzlichkeit der Wohnung durch den großen Lauschangriff beschlossen wurde, ist viermal so lang wie sein Vorgänger. Der neue Artikel 16a, der 1993 das Asylgrundrecht eingeschränkt hat, ist vierzigmal so lang wie der alte Artikel 16. Diese neuen Artikel sind augenscheinlich Missgeburten, sie liegen in der ansonsten kurz und bündig formulierten deutschen Verfassung wie grammatische Monster. Aber das Grammatische ist nicht das Schlimmste. Schlimm ist der Gehalt. Die neuen Artikel waren der Auftakt für eine Flut von Sicherheitsgesetzen. Dem Grundgesetz ergeht es mit diesen Sicherheitsgesetzen wie dem Buchsbaum mit dem Buchsbaumzünsler: Die Raupen verursachen Schäden durch Kahlfraß.
In unsicherster Zeit wurden die Grundrechte geschaffen. Damals, vor siebzig Jahren, wusste man, wie überlebenswichtig ein Grundrecht auf Asyl ist. Deutschland lag am Boden; aber der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid, eine prägende Gestalt bei den Grundgesetz-Beratungen, plädierte für Großzügigkeit: "Die Asylgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben." In der Nachkriegszeit war die Mordrate stark gestiegen; die Abschaffung der Todesstrafe wurde trotzdem ins Grundgesetz geschrieben. Die Gefahr von Spionage und Anschlägen war mit Händen zu greifen; doch über das Verbot der Folter wurde keine Sekunde gestritten.
Der große Umbau
Wie gesagt: In unsicherster Zeit also wurden die Grundrechte geschaffen. Später, im sichersten Deutschland, das es je gab, wurden sie revidiert. Erst das Grundrecht auf Asyl, weil das Boot angeblich voll war; dann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, weil man sonst angeblich der organisierten Kriminalität nicht Herr werden konnte. Heute ist es der islamistische Terrorismus, dessen Bekämpfung die Grundrechte angeblich im Wege stehen. Staatstrojaner sollen ihn bekämpfen.
Seit dem 24. August 2017 ist das Gesetz über den Einsatz des Staatstrojaners in Kraft: Jedwede Kommunikation steht seitdem unter der Kuratel des Staates, jedwede Intimität in Computern ist jetzt von Ermittlern einsehbar. Das Bundeskriminalamt installiert Staatstrojaner in privaten Computern, Laptops und iPhones. Das Gesetz erlaubt den Sicherheitsbehörden die heimliche Infiltration und Überwachung von IT-Systemen jeder Art. Natürlich muss ein Richter die Aktionen genehmigen. Aber die große Kontrolle, die man sich davon erhofft, funktioniert nicht. Warum? Die Richter verteilen Eintrittskarten zu Vorstellungen, die sie nicht kennen und die sie auch nicht weiter verfolgen. Der Richtervorbehalt verspricht, was er nicht halten kann.
Diese staatliche Überwachung ist ein neuer Höhepunkt der Nine-Eleven-Politik. Seit dem 11. September 2001 ist die Politik der Welt, die früher die westliche hieß, dabei, ihre Rechtsstaaten in Präventions- und Sicherheitsstaaten umzubauen. In Deutschland kommt das Bundesverfassungsgericht mit dem Eingreifen kaum noch hinterher. Ein Wunsch zum bevorstehenden großen Grundgesetzjubiläum: Der Bürger hat einen Anspruch auf ein Parlament und eine Regierung, die dieselbe Nervenstärke und dasselbe Rechtsbewusstsein haben wie die Richter in Karlsruhe. Sie haben einen Anspruch darauf, dass das Grundgesetz nicht verwundet wird.
Mit heißem Herzen verteidigen
Das zweite Wunder, das Europaparlament zu erhalten und zu pflegen - das haben die Bürgerinnen und Bürger selbst in der Hand. Sie müssen bei der Europawahl im Mai nächsten Jahres den aggressiven Nationalismen eine Absage erteilen - ansonsten geht das Europaparlament vor die Hunde. Die demokratische Versammlung der Europäerinnen und Europäer ist die weltweit einzige direkt gewählte supranationale Institution; eine solche Versammlung hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben. Es ist ein Parlament, in dem die Kunst der vielsprachigen, aber klaren und kurzen Rede herrscht, ein Parlament, in dessen Gesichtern sich das Gesicht Europas findet. Gewiss: Es hat Fehler, es macht Fehler; aber der Nationalismus, vor dem es Europa und sein Parlament zu bewahren gilt, ist ein einziger großer Fehler. Europa ist sehr viel mehr als die Summe seiner Fehler. Es ist ein welthistorisches Friedensprojekt.
Es sind noch gut neun Monate bis zum siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes und noch gut neun Monate bis zur Europawahl - und es ist ein heißer Sommer. Er sollte der Auftakt sein dafür, die Grundrechte und das neue alte Europa mit heißem Herzen zu verteidigen.