Frankreich:Premierministerin schließt Notstand nicht aus

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Nach dem Tod eines 17-Jährigen bei einer Verkehrskontrolle gibt es Ausschreitungen und Hunderte Festnahmen. Der Polizist, der den Jugendlichen erschoss, bittet bei der Familie um Entschuldigung.

Angesichts der Krawalle in Frankreich schließt es Premierministerin Élisabeth Borne nicht aus, den Notstand auszurufen. "Wir prüfen alle Hypothesen mit einem vorrangigen Ziel: die Rückkehr der republikanischen Ordnung im gesamten Gebiet", sagte Borne dem Fernsehsender BFMTV auf die Frage nach der Verhängung des Notstands.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron berief für diesen Freitag erneut eine Krisensitzung der Regierung ein. Diese sei für 13 Uhr geplant, meldete der Fernsehsender BFM unter Verweis auf das Präsidialamt.

Nachdem ein Polizist einen 17-Jährigen in Nanterre bei Paris während einer Kontrolle erschossen hatte, protestierten in Frankreich Tausende Menschen gegen Polizeigewalt. Drei Nächte in Folge gab es Krawalle im Großraum Paris und weiteren Städten. 40 000 Polizisten waren in der Nacht zum Freitag landesweit mobilisiert worden, um die Gewalt einzudämmen. Wie Innenminister Gérald Darmanin mitteilte, gab es 667 Festnahmen im ganzen Land. 249 Polizisten seien bei den nächtlichen Krawallen verletzt worden.

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In Nanterre wurde am Donnerstagabend eine Bankfiliale in Brand gesetzt, wobei die Flammen auf ein darübergelegenes Wohngebäude übergriffen. Die Feuerwehr löschte den Brand, ohne dass Menschen zu Schaden kamen.

Im Anschluss an einen Trauermarsch für den erschossenen Jugendlichen in Nanterre mit 6000 Teilnehmern gab es dort am Abend Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei. Die Beamten wurden mit Molotow-Cocktails beworfen, die Polizei überwachte die Lage mit Hubschraubern und zog Spezialkräfte zusammen, 19 Menschen wurden festgenommen.

In Marseille gerieten Hunderte Protestierende mit der Polizei aneinander, Geschäfte wurden geplündert und 14 Menschen festgenommen. Proteste gab es auch in Lille, Lyon und Bordeaux. In Grenoble wurde ein Bus mit Feuerwerkskörpern beschossen, die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe legten daraufhin die Arbeit nieder.

Ein ausgebranntes Auto steht in der nordfranzösischen Stadt Roubaix. (Foto: DENIS CHARLET/AFP)

Auch in Belgiens Hauptstadt Brüssel kam es am Donnerstagabend zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften. Jugendliche hätten sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ordnungskräften geliefert und es habe mehrere Brände gegeben, teilte die Polizei mit.

Die neue Gewalt erinnert an die wochenlangen schweren Krawalle des Jahres 2005 in Frankreich. Damals sah sich Präsident Jacques Chirac gezwungen, den Notstand auszurufen. Die Welle der Gewalt nahm ihren Ursprung im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Auslöser war der Tod von zwei jungen Menschen, die durch einen Stromschlag ums Leben kamen, als sie sich vor der Polizei versteckten. Zehn Jahre später wurden zwei Beamte freigesprochen.

Einsatz der Waffe nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt

Am Dienstagmorgen hatte in Nanterre eine Motorradstreife einen 17-Jährigen am Steuer eines Autos gestoppt. Als der Jugendliche plötzlich losfuhr, schoss einer der beiden Polizisten auf ihn. Gegen den Beamten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eingeleitet, er kam in Untersuchungshaft. Der Waffeneinsatz bei der Kontrolle war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt.

Wie der Anwalt des inhaftierten Polizisten dem Sender BFMTV sagte, bedauere der Beamte den Schuss auf den Jugendlichen. Der Polizist habe die Familie um Entschuldigung gebeten. "Er ist am Boden zerstört, er steht nicht morgens auf, um Menschen zu töten. Er wollte nicht töten."

Die Mutter des erschossenen Jugendlichen sagte dem Sender France 5: "Ich bin nicht auf die Polizei sauer, ich bin auf eine Person sauer: Denjenigen, der meinem Sohn das Leben genommen hat."

© SZ/dpa/Reuters/infu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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