Im 19. Jahrhundert sorgte sich die Berliner Polizei noch um die gute Aussicht. Das Siegerdenkmal war die höchste Erhebung in Kreuzberg, doch die Gebäude Berlins wurden höher. Und weil die freie Sicht vom Fuße des Denkmals akut gefährdet war, wollte das Polizeipräsidium es kurzerhand verbieten, höher zu bauen. Das Preußische Oberverwaltungsgericht kippte das Verbot.
Die Polizei habe die Bürger vor konkreten Gefahren zu schützen, nicht vor verbauter Aussicht. Das Kreuzbergurteil vom 14. Juni 1882 gilt als Grundstein eines modernen Polizeirechts, das der Polizei rechtsstaatliche Grenzen setzt. Sie soll für die Sicherheit der Bürger sorgen und nicht allgemeine "Wohlfahrtspflege" betreiben, zu der irgendwie alles gehört. Auch die Aussicht in Kreuzberg.
Die "konkrete Gefahr", die fortan die Schwelle zum polizeilichen Einschreiten markieren sollte, war so etwas wie der kurze Zügel des Rechtsstaats. Keine andere Staatsgewalt kann so tief in die Grundrechte der Menschen eingreifen wie die Polizei - von der Überwachung bis zur Festnahme -, deshalb sollte die Macht der Beamten strikt auf das Notwendige begrenzt sein. Jeder wünschte sich Sicherheit durch die Polizei, gewiss. Aber man wollte eben auch Sicherheit vor der Polizei; die Angst vor dem Obrigkeitsstaat war nie ganz weg.
Das ist der Hintergrund, vor dem man die Proteste der vergangenen Monate betrachten muss. In Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen, in Brandenburg - landauf, landab haben Bürger gegen die neuen Polizeigesetze der Länder demonstriert. Denn es schwappt eine regelrechte Reformwelle durch die Republik.
Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz schritten 2017 voran, Hessen und Nordrhein-Westfalen folgten 2018. In Sachsen hat sich die Koalition vor Kurzem auf ein neues Polizeigesetz geeinigt, in Brandenburg geht der anfangs in der rot-roten Koalition heftig umstrittene Gesetzentwurf nun auf die Zielgerade, in Niedersachsen hat der Innenausschuss noch einige verfassungsrechtliche Fallstricke des Entwurfs von 2018 beseitigt. Auch in Mecklenburg-Vorpommern hat der Innenminister gerade eine Novelle vorgelegt, unter anderem mit einer "gezielten Kontrolle" potenzieller Drogenkuriere oder Einbrecher.
Die Kritiker warnen vor allzu niedrigen Hürden für heimliche Überwachung oder gar für polizeilichen Gewahrsam. Denn die preußische Klarheit ist dahin, spätestens seit Bayern die "drohende Gefahr" ins Polizeigesetz aufgenommen hat, einen verwaschenen Begriff, der nach mehr klingt, als er bedeutet - wann wäre eine Gefahr nicht "drohend"? Auch NRW hatte den Terminus anfänglich im Gesetzentwurf, strich ihn aber wegen rechtlicher Bedenken.
In Wahrheit begann die schleichende Begriffsverschiebung schon sehr viel früher. Matthias Bäcker, Jura-Professor in Mainz, erinnert daran, dass bereits seit den Siebzigerjahren Befugnisse etwa zur Identitätsfeststellung oder zum Einsatz verdeckter Ermittler geschaffen worden seien. Und in den Neunzigern folgten Wohnraumüberwachung oder Rasterfahndung. Terrorismus und organisierte Kriminalität hatten die Sicherheitslage verändert - oder wenigstens deren Wahrnehmung. Die Polizei sollte nicht mehr auf die "konkrete Gefahr" warten. Sie sollte sich aktiv auf die Suche nach dem Risiko machen.
Startschuss für eine regelrechte Reformwelle der Landespolizeigesetze
Die Anschläge vom 11. September 2001 beschleunigten diese Entwicklung. Wo sich Einzeltäter im Netz radikalisieren, wo Attentäter aus dem Nichts kommen, wo man zum Bombenbau nur Internet und Baumarkt braucht - da ist vieles nicht konkret und sichtbar. In den Jahren danach wurden neue Polizeibefugnisse geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht stutzte sie zwar wiederholt zurück. Aber auch das Gericht reagierte auf den Trend zur Prävention und justierte seine Maßstäbe.
Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung war das Urteil zum BKA-Gesetz vom 20. April 2016. Das Gericht beanstandete viele Befugnisse, die das BKA 2009 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus erhalten hatte. Aber zugleich versuchte es, die Fäden wieder zusammenzubringen - die Bekämpfung diffuser Risiken bereits im Vorfeld der "Gefahr" mit einer rechtsstaatlichen Kontrolle. Will die Polizei beispielsweise Überwachungsmaßnahmen anordnen, müssen danach zumindest "Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr" bestehen - "allgemeine Erfahrungssätze" reichen nicht.
Das Urteil, so scheint es, war der Startschuss für eine regelrechte Reformwelle der Landespolizeigesetze - auch in technischer Hinsicht: elektronische Fußfessel, Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ), Onlinedurchsuchung, IMSI-Catcher zur Standortbestimmung bei Handys. Und es sind nicht nur die unionsgeführten Länder, die nach mehr Überwachung rufen; in Sachsen hat die CDU sogar zähneknirschend auf Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ verzichtet, weil die SPD nicht mitzog.
Das Ende 2017 unter einem grünen Ministerpräsidenten verabschiedete baden-württembergische Gesetz will ebenfalls nicht zu lasch daherkommen. Auch im Südwesten sind nunmehr Quellen-TKÜ und Fußfessel erlaubt, außerdem die "intelligente Video-Überwachung", die bei verdächtigen "Verhaltensmustern" automatisch Alarm schlägt. Und in Brandenburg könnte der "Staatstrojaner" ins Gesetz gelangen - unter Beteiligung der Linken.