Streit um EU-Ratspräsidentschaft von Tusk:Europa braucht ein starkes Polen

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Proteste gegen die Regierung und Bekenntnisse zu Europa gibt es in Polen schon - die EU sollte sie unterstützen. (Foto: dpa)

Die EU muss deshalb den Ideen des Nationalkonservativen Kaczyński entgegentreten. So ermutigt sie die liberalen Polen - denn ein Umschwung kann nur von innen kommen.

Kommentar von Stefan Ulrich

Wollte die EU ihre Erfolgsgeschichte durch ein Mustermitglied illustrieren, so könnte das Polen sein. Obwohl das Land nicht die enorme Hilfe erhielt, die Ostdeutschland von Westdeutschland bekam, entwickelte es sich seit Ende des Kommunismus hervorragend. Die Polen sollten stolz auf diese Leistung sein. Ihre Städte, etwa Warschau, blühten auf, die Wirtschaft boomte, der Lebensstandard sehr vieler Bürger stieg rasch an. Zugleich fanden sie Frieden und Sicherheit in der EU und der Nato. Wann je zuvor in seiner tausendjährigen Geschichte stand Polen besser da?

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Polens Regierung treibt den Streit um ihren verhassten Landsmann Donald Tusk auf die Spitze. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die EU vor allem eines demonstrieren will: Einigkeit.

Von Daniel Brössler, Sebastian Jannasch und Alexander Mühlauer

Ausgerechnet dieses Land trat am Donnerstag als Gipfel-Schreck auf. Warschau verschickte Brandbriefe und boykottierte schließlich die Abschlusserklärung des Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs. Und das alles, weil die anderen Donald Tusk, einen Polen, als ihren Ratspräsidenten bestätigten. Leicht verständlich ist das polnische Wüten nicht, zumal sich die Regierung bereits wegen ihrer Justiz- und Medienpolitik in der EU isoliert hat.

Kaczyński strebt ein illiberales Land in einer schwachen EU an

Dennoch müssen die anderen Europäer versuchen, Polen zu verstehen, wenn sie das Land nicht verlieren wollen. Was also treibt die Regierung in Warschau und ihren Spiritus Rector Jarosław Kaczyński an? Ein Beweggrund liegt in einer alten Fehde zwischen dem nationalkonservativen Kaczyński und dem liberalkonservativen Tusk. Beide entstammen der Gewerkschaft Solidarität, die an der Wende 1989 in Europa entscheidenden Anteil hatte. Heute gehören die beiden Politiker rivalisierenden Parteien an. Zudem macht Kaczyński, ohne Beweise vorzulegen, Tusk für den Tod seines Zwillingsbruders Lech bei einem Flugzeugabsturz 2010 verantwortlich. Tusk war damals Premier, Lech Kaczyński Präsident Polens.

Doch es geht noch um mehr. Hinter dem persönlichen Zwist steckt eine ideologische Spaltung, die weit zurückreicht. Beim Übergang vom Kommunismus zur Demokratie gingen die Führung der Solidarność unter Lech Wałęsa und die liberalen Intellektuellen Kompromisse mit der kommunistischen Nomenklatura ein. Zudem gab es bei der Umwandlung der polnischen Wirtschaft und den Privatisierungen Härten und Enttäuschungen. Schließlich spaltete sich die Solidaritäts-Bewegung in zwei Lager auf. Die Liberalkonservativen wie Tusk strebten eine liberale Demokratie westlicher Prägung und eine feste Verankerung im Kern der Europäischen Union an. Die Nationalkonservativen wie die beiden Kaczyńskis wollten dagegen ein homogenes, souveränes Polen, das sich seinen Patriotismus, die katholische Identität und ein traditionelles Familienbild vollständig bewahrt, die laizistische Moderne beargwöhnt und den Einfluss des Auslands gering hält.

Kaczyński knüpft dabei an die polnische Leidensgeschichte der Teilungen, Kriege und Fremdbestimmung an, für die besonders Deutschland und Russland verantwortlich sind. Der Kampf um Unabhängigkeit muss nach seiner Ansicht weitergehen. Denn für ihn und seine Anhänger haben die Liberalen im Bündnis mit den Kommunisten die Revolution geklaut und Polen erneut fremden Mächten ausgeliefert, darunter einer von Berlin beherrschten EU. Dies will Kaczyński korrigieren, indem er in Polen ein autoritäres Politik- und Gesellschaftsmodell durchsetzt und Europa die Stirn bietet.

Das heißt jedoch nicht, dass die identitären Polen so wie die Brexit-Briten die EU verlassen möchten. Hierfür schätzen sie die Vorteile, insbesondere beim Handel und den Finanzhilfen, zu sehr. Sie wollen die EU jedoch auf einen Binnenmarkt zurückstutzen, auf eine Union, die sich nicht in die innere Ordnung ihrer Mitglieder einmischt und bei Rechtsstaat und Demokratie keine Vorschriften macht.

Darauf darf sich die EU keinesfalls einlassen. Eine illiberale Demokratie à la Kaczyński, in der die Mehrheit alles darf und die Minderheit nichts, in der die Justiz nicht mehr unabhängig ist und die Herrscher entscheiden, wer angeblich die wahren Polen sind und wer die Volksverräter, ist mit den Werten Europas unvereinbar. Das macht es so schwer, sich mit Warschau zu verständigen.

Dennoch muss Europa weiter um Polen werben. Dies ist es den Millionen oft jungen Bürgern schuldig, die ein liberales Polen in einem einigen Europa wollen. Polen ist tief gespalten. Die Zivilgesellschaft ist stark, die Bereitschaft zum Protest beachtlich. Noch fehlt es an Parteien, die glaubwürdig genug sind, um die Herrschaft der Identitären zu beenden. Der Umschwung muss jedoch von innen kommen. Die EU sollte ihn unterstützen, indem sie Exzessen der Regierung klar entgegentritt, wie sie es gerade durch die Wahl Tusks getan hat. Und indem sie den Bürgern vermittelt, wie sehr Europa ein starkes, erfolgreiches Polen braucht.

© SZ vom 10.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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