Der Tag nach einer Katastrophe ist oft noch schlimmer als der Moment selbst, an dem alles zusammenbricht. Erste Reaktionen sind gemeinhin Ungläubigkeit, Gelächter, Wut. Später erst folgt der emotionale Absturz. Und dann setzen die Fragen ein. Wie konnte das passieren? Und wie kommen wir da raus?
Ungefähr so muss man sich das Wechselbad der Gefühle in der österreichischen Sozialdemokratie vorstellen, nachdem am Montagnachmittag klar geworden war, dass der größte anzunehmende Unfall eingetreten war: ein falsch verkündetes Ergebnis bei einer Vorsitzendenwahl aufgrund von Inkompetenz und Schlamperei.
In der Partei wird jetzt, nach langem Lager- und Machtkampf, schon über eine "Neugründung" oder einen kompletten Austausch des gesamten Führungspersonals geredet. Über einen Aufbruch, oder über die Parlamentswahlen, die nächstes Jahr anstehen, redet in der SPÖ jedenfalls kaum jemand mehr.
Nachzählen, bekanntgeben? Man hätte meinen können, das sei eine einfache Sache
Am Samstag, auf einem außerordentliche Parteitag der SPÖ in Linz, hatten 602 Delegierte darüber abgestimmt, wer der neue Parteichef werden soll: Hans Peter Doskozil, Landeshauptmann im Burgenland, oder Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen. 602 Stimmzettel mit jeweils zwei Namen darauf, eine 19-köpfige Wahlkommission, elf Urnen - man hätte meinen können, das sei eine einfache Sache, die man so erledigt: drei Haufen - einer für Babler, einer für Doskozil, einer für die ungültigen Stimmen. Nachzählen, noch mal nachzählen, bekanntgeben. Denkste.
Bekanntgegeben wurde am Samstag, Doskozil habe mit 53 Prozent der Stimmen gewonnen, Babler mit 47 Prozent das Nachsehen gehabt. Da das Ergebnis nicht unerwartet kam, weil viele Beobachter und Mitglieder Doskozil ohnehin vorn gesehen hatten, obgleich Babler den Saal mitgerissen hatte, nahmen die Genossen und Genossinnen das Resultat zur Kenntnis und fuhren nach Hause.
Nur ein ORF-Journalist, der für seine Liebe zu Zahlen bekannte Martin Thür, rechnete und rechnete und twitterte dann, das sei schon seltsam: Da fehle in der Addition eine Stimme.
Der Rest ist schon jetzt Parteigeschichte, und wie die SPÖ da wieder raus kommt, ist derzeit eine von vielen Fragen. Ist das Ganze einfach nur saudumm gelaufen - oder war es gar eine Verschwörung gegen Babler? Man habe sich, so die Leiterin der Wahlkommission, Michaela Grubesa, zwei Tage später, leider "vertan". Am Dienstag trat sie zurück.
Ein menschlicher Fehler, sagt die Wahlkommission, kein Betrug
Am Montag hatte sie verkündet, in Wahrheit sei Babler der Sieger. Wie genau die Auszählung abgelaufen ist und wer wann welche Fehler gemacht hat, das war da immer noch nicht klar. Denn erst am Dienstagmorgen um zehn Uhr setzte sich die Wahlkommission, diesmal beäugt von einem Notar, zusammen, um alles aufzuklären. Und erst nach und nach wurde bekannt, dass falsch gemacht worden war, was falsch gemacht werden konnte.
Einzelne Mitglieder der Kommission zählten die elf Urnen aus, übermittelten das Ergebnis an einen EDV-Mitarbeiter, der trug es in eine Excel-Liste ein - offenbar jeweils seitenverkehrt. Weder wurde händisch nachgezählt, noch das Ergebnis ein zweites Mal auf Plausibilität geprüft. Die Mitglieder der Wahlkommission waren, als die Stimmen addiert wurden, wohl teilweise gar nicht mehr anwesend. Mit ihrer Unterschrift bestätigt haben sie die Richtigkeit des Endergebnisses dann trotzdem.
Am Dienstagnachmittag dann Klarheit. Endlich, nach einer quälend langen Sitzung einer Wahlkommission, die dieses Mal nichts falsch machen wollte, gab die Partei bekannt, dass jetzt alles klar sei. Das zweite, das neue Ergebnis sei das richtige, ein Verknüpfungsfehler habe die Zahlen "auf dem Kopf" gestellt. Ein menschlicher Fehler, Betrug sei auszuschließen. Die neue Leiterin der Wahlkommission, Klaudia Frieben, sagte, man habe halt am Samstag nicht nachgezählt, weil es "keine Zweifel" gegeben habe.
Ob damit die Debatte darüber, ob das Ergebnis legitim ist, zum Erliegen kommt, muss sich noch weisen. Die SPÖ jedenfalls beeilte sich am Dienstag zu versichern, die allerschlimmsten Gerüchte seien nicht wahr. Man habe die Stimmzettel nicht, wie kolportiert worden war, lose in einer Plastiktüte, sondern verschweißt auf einer Palette in die SPÖ-Zentrale in der Hauptstadt geschafft. Aber damit war eine neue Frage nicht beantwortet, die plötzlich auftauchte: Warum in der Gesamtrechnung mehr Stimmen auftauchten, als im elektronisch übermittelten Bericht standen. Das sei ganz einfach zu erklären: Die Stimmen der zwei Bewerber seien händisch eingetragen worden. Damit, fand die Wahlkommission offenbar, sei genug erklärt.
Dem vorher unbekannten Babler wurde durch das Chaos das Momentum genommen
Andreas Babler, der Nun-Wohl-Doch-Parteichef, hatte abgewartet, bis das Zählchaos restlos aufgeklärt war, bevor er sich zu freuen begann. Doskozil gab seinen Rückzug aus der Bundespolitik bekannt. Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser, zeitweilig der einzige Erwachsene im Raum, trat vor zahlreiche Kameras, entschuldigte sich immer wieder, erkennbar erschüttert, und wusste auch nicht weiter. Sollte der Parteitag wiederholt werden? Reichte es, dass die Stimmzettel beim x-ten Zählen am x-ten Tag dann doch irgendwie ein belastbares Ergebnis brachten? Und war die Leiterin der Wahlkommission, Michaela Grubesa, die mit einem wichtigen Unterstützer Doskozils liiert ist, vielleicht voreingenommen?
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Gutzumachen war zu diesem Zeitpunkt nur noch wenig. Denn Überraschungssieger Babler, der sich aus einer vermeintlich aussichtslosen Lage als weitgehend unbekannter Provinzpolitiker erst in einer Mitgliederbefragung auf Platz zwei und dann auf dem Parteitag an die Spitze gekämpft hatte, wurde mit dem kapitalen Fehler der Funktionäre das Momentum genommen, die Siegesfreude, ein Aufbruch.
Am Dienstagnachmittag trat er dann schließlich als neuer Bundesvorsitzender der Partei vor die Presse. Und nahm die Wahl an. Die SPÖ liege, sagte Babler, am Boden, die Partei erlebe eine der bittersten Stunden der letzten Jahre. "Aber die Zukunft der SPÖ schreiben wir selbst", so Babler, und rühmte noch einmal seine Kampagne "aus dem Nichts", die ihn an diese Stelle gebracht habe. Nun werde die Partei auf ihre Mitglieder zugehen und die Basis mehr einbinden. Es brauche neue, transparente Regeln und eine einige Partei. Er appellierte an alle, die jetzt frustriert und enttäuscht seien, trotz allem mitzumachen.
Die österreichischen Medien kriegten sich, nachvollziehbarerweise, trotzdem am Dienstag nicht mehr ein. Heute titelte: "Satire Projekt Österreich" (SPÖ), die Kronen Zeitung machte auf mit "Das darf doch nicht wahr sein", die Tiroler Tageszeitung sprach von "Pleiten, Pech und SPÖ" und die Kleine Zeitung vom "Roten Fiasko". Am Mittag wurde dann bekannt, dass eine weitere Wahl angefochten wurde und womöglich wiederholt werden muss: die Wahl zur Österreichischen Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft (ÖH), den Studentenvertretungen im Land. Auch hier waren offenbar Stimmen falsch zugeordnet worden. Der Standard teilte das auf seiner Webseite mit folgendem Kommentar mit: "Kein Scherz."