Niederlande:Koalition zerbricht an Asylpolitik

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Ministerpräsident Mark Rutte wollte das Asylrecht verschärfen, doch seine Koalitionspartner zogen nicht mit. (Foto: Robin Utrecht/Imago)

Christliche Bündnispartner lehnen die Forderung von Ministerpräsident Rutte ab, den Familiennachzug zu Flüchtlingen zu erschweren. Wie geht es nun politisch weiter in Den Haag?

Von Thomas Kirchner, Paris

In den Niederlanden ist die regierende Koalition an einem Streit über die Asylpolitik zerbrochen. Die Unterschiede zwischen den vier Koalitionsparteien bei der Migrationspolitik seien unüberbrückbar, sagte Ministerpräsident Mark Rutte am Freitagabend in Den Haag: "Das ist eine extrem bedauerliche politische Realität." Er kündigte seinen Rücktritt an.

Damit kommt Ruttes viertes Kabinett etwa eineinhalb Jahre nach seinem Start an sein vorzeitiges Ende. Die linksliberale D66, die Christen-Union sowie der christdemokratische CDA hatten sich nach mehrtägigen Verhandlungen geweigert, einen Vorschlag Ruttes zur Verschärfung der Asylpolitik mitzutragen. Ein Kompromiss fiel in letzter Minute durch. Ruttes rechtsliberale VVD, bei weitem stärkste Kraft im Parlament, hatte darauf bestanden, bis spätestens Freitag eine Einigung zu finden.

Rutte steht seit Längerem unter Druck seiner Partei, die von ihm Schritte zur Begrenzung der Einwanderung erwartet. Einen Aufstand der VVD-Delegierten hatte er im November nur durch das Versprechen verhindern können, dieses Ziel auf irgendeine Art und Weise zu erreichen. Da die Flüchtlingspolitik weitgehend europäisiert ist, versuchte er es zunächst in der EU und pochte auf die Einhaltung der Dublin-Regeln. Sie besagen, dass Asylbewerber ihre Anträge eigentlich im Land der Ankunft stellen müssen, also in den Außengrenzstaaten. Nach Protest von Italienern und Griechen unterstützte Rutte den Bau von Grenzmauern. Zuletzt engagierte er sich besonders beim Versuch der EU, mit Tunesien ein umfassendes Kooperationsabkommen zur Migration abzuschließen.

Es werden so viele Asylbewerber erwartet wie seit 2015 nicht mehr

Das alles ändert kurzfristig wenig an der Lage in den Niederlanden. Dort stiegen die Asylanträge im vergangenen Jahr um ein Drittel auf mehr als 46 000 und könnten laut einer Prognose in diesem Jahr auf mehr als 70 000 ansteigen. Allerdings wurden bis Mai nur etwa 15 000 Anträge gezählt. Nach einer vorübergehenden Steigerung im Herbst sind die Zahlen seit Monaten eher niedrig, so dass der Jahresstand deutlich geringer ausfallen könnte.

Die Asyleinrichtungen des Landes standen im vergangenen Jahr unter Druck. Die Erstaufnahme ist zentral in Ten Apel organisiert. Dort waren Hunderte Flüchtlinge monatelang gezwungen, im Freien zu schlafen, mit wenig oder gar keinem Zugang zu Trinkwasser, sanitären Einrichtungen oder Gesundheitsversorgung.

Auf einem Parteitag Anfang Juni hatte die VVD ultimativ auf weiteren Schritten bestanden. Ruttes Vorschlag lautete nun, die Möglichkeiten der Familienzusammenführung von Kriegsflüchtlingen stark zu beschränken. Auch andere Länder in der EU handhaben dies schon restriktiver, allerdings gibt es in Deutschland immer wieder Gerichtsurteile, die den Nachzug von Familien doch ermöglichen. Konkret schlug Rutte vor, maximal 200 Flüchtlingen im Monat den Nachzug ihrer Frauen und Kinder zu erlauben, und dies nach einer Zeit von zwei Jahren. Besonders für die als Familienparteien geltenden Christen-Union und CDA war das inakzeptabel. Ähnliche Pläne waren im vergangenen Jahr am Einspruch mehrerer Gerichte gescheitert.

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Rutte ließ es nun offensichtlich bewusst auf einen Bruch ankommen. Er scheint kalkuliert zu haben, dass die Wähler ihm einen harten, schnellen Schnitt vielleicht danken. Die Koalitionspartner reagierten überrascht und verärgert über Ruttes Unerbittlichkeit. "Wir sind alle geschaffen und werden geliebt vom selben Gott", schrieb die Christen-Union auf ihrer Website. Der CDA-Fraktionsvorsitzende Pieter Heerma sprach von "rücksichtsloser" Politik. CDA-Chef Wopke Hoekstra nannte den Bruch "enttäuschend, unnötig und nicht zu erklären". D66-Fraktionschef Jan Paternotte sagte: "Mark Rutte ist aus dem Kabinett ausgetreten." Nun soll die Zweite Kammer neu gewählt werden, wohl im Herbst. Bis dahin bleiben die Minister geschäftsführend im Amt. Rutte versprach, auf jeden Fall nicht in der Unterstützung der Ukraine nachzulassen und sich auch zu bemühen, andere wichtige Vorhaben weiterzuführen.

Die Koalition stand von Anfang an unter schlechtem Stern. Von der Wahl bis zur Vereidigung der Minister waren zehn Monate vergangen, die Suche nach Partnern dauerte 271 Tage. Rutte, der seit 2010 regiert, ging angeschlagen in das Mitte-Bündnis. Sein vorheriges Kabinett war über einen Skandal gefallen, danach hatte der Ministerpräsident mit Falschaussagen über die Weglobung eines unbequemen Politikers viel Vertrauen verspielt. Er stand fast vor dem Karriere-Aus. Mangels Alternativen gingen D66 und CDA erneut ins Boot mit dem Rechtsliberalen. Allen Seiten war aber klar, dass die Asylpolitik ein Zankapfel werden könnte.

Rutte ließ am Abend offen, ob er bei der Wahl erneut antritt. In den Niederlanden stellt sich nun die Frage, wie eine neue, andere Koalition aussehen könnte. Auf der Linken und bei Grünlinks findet sich wohl niemand, der es mit Rutte oder einem alternativen VVD-Politiker probieren möchte. Rechts strecken mehrere die Hände. Caroline van der Plas, die mit ihrer Bauern-Bürger-Bewegung bei den jüngsten Prozinzwahlen abgeräumt hatte, meldete sogar indirekt Ambitionen auf das Premiersamt an. Rechtsaußen Geert Wilders wiederum wurde in der News-Hauptsendung des Abends ausführlich zu seinen Ansichten befragt, als wäre er ein ganz normaler Aspirant. "Die Zeit, wo man etwas von vornherein ausschließen kann, ist vorbei", sagte der Islamkritiker und deutete damit zur Überraschung vieler Beobachter und Anhänger seine Bereitschaft an, mit der VVD zusammenzugehen - "natürlich am liebsten ohne Rutte". Allerdings würde Wilders absehbar einen derart harten Kurs in der Ausländerpolitik fahren, dass es mit ihm wohl höchstens zu einer kurzfristigen Allianz käme.

Vom Personal abgesehen, wird jede neue Regierung vor der Herausforderung stehen, das vertrackte Stickstoffproblem zu lösen. Der Ausstoß ist zu hoch, er muss runter. Dazu müssen aber Bauern überzeugt werden, ihre Höfe aufzugeben. Die Gespräche mit den Bauern sind gescheitert; einem möglichen Zwang werden sie sich vermutlich widersetzen. Den Eintrag auf den Böden nicht zu senken ist ebenfalls keine Option, das hat die Justiz klargemacht. Hinzu kommen das noch immer nicht befriedigend gelöste Problem mit dem Kinderbetreuungszuschlag sowie die Frage der Entschädigung für Betroffene der Erdbeben in Groningen.

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