Ein Manager also. Christian Kern wird der neue Kanzler in Österreich. Er soll das Land vor der populistischen FPÖ retten, in Europa eine rechte Blockade verhindern und als neuer Vorsitzender der SPÖ die Sozialdemokratie vor ihrem endgültigen Niedergang bewahren - in erster Linie die österreichische.
Aber wenn man sich umschaut in Europa, wo die traditionelle Reformlinke in schwerer Not ist, dann ruhen auf Kern auch Hoffnungen der Sozialdemokratie an sich. Vielleicht sogar die der einst so stolzen deutschen Genossen. Christian Kern - die letzte Patrone der europäischen Sozialdemokratie?
Eine Erfolgsgeschichte zum Vorzeigen - das könnte sie mal brauchen. Matteo Renzi, Italiens Premier, ist derzeit der einzige Sozialdemokrat, der einen europäischen Staat erfolgreich regiert und mutig reformiert, jedenfalls behauptet er das selbst gerne von sich. Einer aktuellen Umfrage zufolge liegt Renzis Partei PD trotzdem hinter der populistischen Bewegung Fünf Sterne des Komikers Beppe Grillo.
François Hollande führt Frankreich nach den Terroranschlägen nicht nur sicherheitspolitisch im Ausnahmezustand, seine Regierung setzt auch ihre Reformen per Dekret am Parlament vorbei durch - Ergebnis in den Umfragen: 90 Prozent sind mit Hollande nicht zufrieden.
In England befindet sich Labour auf traditionalistischem Linkskurs mit offenem Ausgang. In Spanien erreichte die PSOE zuletzt 22 Prozent, in Griechenland ist die Sozialdemokratie einstellig und nicht mehr in der Regierung, in Polen sitzt sie nicht mal mehr im Parlament.
Der Verunsicherung wenig entgegenzusetzen
Ach ja, dann sind da noch die deutschen Genossen, die seit drei Jahren unablässig erzählen, wie erfolgreich sie ihre Themen in der großen Koalition durchsetzen - und trotzdem erleichtert einer Reinigungskraft zujohlen, die nicht versteht, wie die SPD weiter bei den Schwarzen bleiben könne. Widerspruch, dein Name ist SPD. Die traditionsreichste und vielleicht erfolgreichste politische Bewegung des 20. Jahrhunderts befindet sich in der Sinnkrise.
"Er sieht smart aus, was in Zeiten wie diesen auch wichtig ist, hat aber Haltung." So schilderte der Herausgeber des Nachrichtenmagazins Profil, Christian Rainer, den künftigen österreichischen Kanzler Kern jüngst im Deutschlandfunk. Kern könne kommunizieren, sei gut im Auftritt, und "man hat ungefähr eine Ahnung, wofür er steht, nämlich für eine solidarische, aber doch leistungsorientierte Sozialdemokratie".
Es wäre nicht ganz einfach, einen prominenten deutschen Sozialdemokraten zu finden, den man so beschreiben könnte. Und nicht bei allen würde der Vergleich nur daran scheitern, dass sie nicht ganz so fesch sind wie Kern.
Bemerkenswert auch sein Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik. Angeblich erhält er nur noch die Hälfte seines bisherigen Gehalts. Deutsche Sozialdemokraten haben in jüngerer Zeit eher durch Wechsel in umgekehrter Richtung auf sich aufmerksam gemacht. Der letzte Wirtschaftsboss, der es in der SPD zu etwas gebracht hat, dürfte Martin Schulz sein, der in Würselen seine eigene Buchhandlung betrieb.
Die Sozialdemokraten sind vielerorts in Europa vor allem durch Erfolge rechtspopulistischer Parteien unter Druck. "Das macht uns sehr große Sorgen", räumt Generalsekretärin Katarina Barley ein. Populistische Parteien schlügen Kapital aus einem "Grundgefühl von Angst und Verunsicherung", konstatiert Martin Schulz.
Gleichwohl weisen die Ursachen für den Niedergang von Land zu Land auch Unterschiede auf. Im Süden Europas hatte der Euro jahrelang klassische Verteilungspolitik befördert, weil die Zinsen niedrig und das Geld billig waren. Jetzt leidet vor allem die Sozialdemokratie politisch unter der Sanierung dieser Zustände.
Im Osten Europas begegneten viele Menschen nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs jeder Form von staatlichem Interventionismus eher skeptisch, worunter sozialdemokratische Bewegungen ebenso zu leiden hatten wie später unter dem Erstarken nationalistischer Parteien.
Der sozialdemokratische Ministerpräsident Robert Fico versuchte im Wahlkampf in der Slowakei auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, die äußerste Rechte aufzuhalten, indem er sich selbst als hemmungslos fremdenfeindlich präsentierte. Nachahmung nicht empfohlen: Fico büßte ein Drittel an Stimmen ein.
Sozialdemokraten zahlen den Preis für anderer Versäumnisse
In Gründungsstaaten der EU wie Frankreich und Deutschland wiederum zahlen die Sozialdemokraten unter anderem den Preis dafür, dass sie - mal schneller, mal langsamer - eine Reformpolitik in Angriff nahmen, die von konservativen Vorgängerregierungen verschoben oder auch verweigert worden war. In Deutschland gehörte das Wort Reformstau zum weniger ruhmreichen Erbe des Einheitskanzlers Helmut Kohl, in Frankreich hat zuletzt Nicolas Sarkozy viel geredet und wenig gehandelt.
In Deutschland zwangen einst steigende Arbeitslosigkeit und massive Staatsverschuldung die rot-grüne Regierung zum Handeln. Mit 15 Jahren Verspätung ziehen die Sozialisten in Frankreich nach - wobei der Zerfallsprozess der Regierungslinken sich in Paris mit einer Parallelität zu Deutschland vollzieht, als hätten Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Franz Müntefering das Drehbuch geschrieben.
Weil die von Globalisierung, Bevölkerungsentwicklung und Schuldenaltlasten erzwungenen Reformen in den vergangenen Jahren auch und gerade sozial schwächere Bürger trafen, empfinden viele Betroffene diese Politik verständlicherweise nicht vorrangig als den Versuch, soziale Errungenschaften unter erschwerten Bedingungen zu erhalten. Sie sehen darin eher einen Verrat an sozialdemokratischen Prinzipien.
In Deutschland wurde die Partei, die sich die soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, zur Partei, die auf den Transparenten von Demonstranten politischer Ungerechtigkeit geziehen wurde.
Die SPD hat sich dieser Wahrnehmung nie geschlossen widersetzt, sondern mehrheitlich ergeben. Höhepunkt war der Wahlkampf des Kanzlerkandidaten und einstmals erklärten Agenda-Befürworters Peer Steinbrück, der 2013 ein Land nahe der Depression beschrieb, und nach verlorener Wahl sinngemäß einräumen musste, die Stimmung sei gar nicht so schlecht gewesen wie von der SPD beschrieben.
So wird die europäische Sozialdemokratie im Allgemeinen und die SPD im Besonderen in einem schwachen Moment von einer harten Aufgabe erwischt: der Flüchtlingskrise.
Das von Angela Merkel gerne verwendete, von Wolfgang Schäuble erfundene und zwischen Ironie und Verharmlosung oszillierende Wort vom "Rendezvous mit der Globalisierung" bedeutet ja nichts anderes, als dass neben dem wirtschaftlichen Nutzen nun auch die negativen Folgen internationaler Ungleichheit in Europa immer stärker erlebbar werden.
Für deutsche Sozialdemokraten besonders bitter: Die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien sind auch die Folge einer Politik im Mittleren Osten insbesondere durch den Irak-Krieg, die von der SPD entschieden abgelehnt wurde.
Und der absehbare Andrang von Armutsflüchtlingen ist das Ergebnis eines Nord-Süd-Konflikts, für dessen Eindämmung ein gewisser Willy Brandt schon 1977 eine eigene Kommission ins Leben rief. Internationale Solidarität ist heute keine linke Spinnerei mehr, sondern Teil der Lösung.
Mischung aus eigenen Fehlern und historischer Ungerechtigkeit
Die SPD aber hat alle Hände voll zu tun, die nationale Solidarität aufrechtzuerhalten. Parteichef Sigmar Gabriel hatte frühzeitig gewarnt, dass der Flüchtlingszuzug einer doppelten Integration bedürfe: Einerseits müssten die Neuankömmlinge aufgenommen werden, andererseits dürften sich vor allem sozial schwächere Deutsche nicht zurückgesetzt fühlen.
Vor einigen Wochen forderte er "ein neues Solidaritätsprojekt für unsere eigene Bevölkerung". Ob der SPD-Vorsitzende damit den Bedürfnissen der kleinen Leute tatsächlich entgegenkommt oder sie eher noch in der Wahrnehmung bestärkt, sie kämen wegen der Flüchtlinge zu kurz, ist nicht ausgemacht.
So ist die Sozialdemokratie durch eine Mischung aus eigenen Fehlern und historischer Ungerechtigkeit in die Krise geraten. Ein Europa ohne organisierte Sozialdemokratie ist vorstellbar, aber nicht wünschenswert. Ein Europa ohne sozialdemokratische Politik ist ohnehin unvorstellbar - allein schon, weil es bis hinein ins Kanzleramt viele Politiker gibt, die sozialdemokratisch handeln, es aber nicht so nennen.