Nazi-Verbrecher Ladislaus Csizsik-Csatáry:Rädchen im System Auschwitz

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Britische Journalisten spüren einen rüstigen Greis auf, der Teil der Holocaust-Maschinerie war: Ladislaus Csizsik-Csatáry lebt unbehelligt in Budapest. Wer ist der Mann, der Tausende Juden misshandelt und in den Tod geschickt haben soll?

Oliver Das Gupta

Fürchterliche Allianz zwischen Deutschland und Ungarn: Adolf Hitler begrüßt Miklós Horthy 1938 auf dem Bahnhof von Kiel. Im Hintergrund links hinter Hitler der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Generaladmiral Erich Raeder. (Foto: Scherl / SZ Photo)

Vier Stunden ist Ladislaus Csizsik-Csatáry (auch bekannt unter dem Namen László Csatáry) in der Stadt unterwegs. Er kauft Lebensmittel ein, holt sich eine Zeitung am Kiosk, plauscht mit einer Bekannten im Café. Scheinbar mühelos trägt der rüstige 97-Jährige zwei Einkaufstüten nach Hause, in seine Zwei-Zimmer-Wohnung, die sich in einem der besseren Viertel von Budapest befindet.

Dann klingelt es. Der Greis öffnet in Socken und Unterwäsche die Tür. Reporter des britischen Boulevardblatts The Sun konfrontieren ihn mit der schrecklichen Vergangenheit: Kassa, die Juden, die Viehwaggons, Auschwitz. "Nein, nein. Ich will das nicht diskutieren", sagt Csizsik-Csatáry auf Englisch, und: "Ich habe es nicht getan. Verschwinden Sie!"

Veröffentlicht hat die Zeitung die Geschichte am vergangenen Wochenende. Es ist ein Scoop, der weltweit für Aufsehen sorgt. Denn Ladislaus Csizsik-Csatáry steht auf Platz eins der Liste der Nazi-Schergen, die das Simon-Wiesenthal-Zentrum verfolgt.

Csizsik-Csatáry war, so der Vorwurf, ein Rädchen des Systems Auschwitz. Tausende Juden soll er in Lager gepfercht und anschließend in den sicheren Tod geschickt haben. In deutsche Konzentrationslager im besetzten Polen wie Auschwitz, wo Menschen systematisch vernichtet wurden. Schreibtischtäter war er nicht, einige seiner Opfer malträtierte er offenbar persönlich. Die Indizien für seine Rolle vor mehr als 65 Jahren sind erdrückend.

Fest steht: Während des Zweiten Weltkriegs fungiert Csizsik-Csatáry als Polizeioffizier in Kassa, dem heutigen Košice in der Slowakei. Die Stadt hat in der wechselhaften ungarischen Geschichte einen festen Platz, die Bevölkerung setzt sich aus verschiedenen Ethnien zusammen. Bei der Volkszählung von 1910 geben die meisten an, Ungarn zu sein, es leben auch aber Slowaken, Deutsche, Juden und Polen in der Stadt am Hornád-Fluss, die die Deutschen Kaschau nennen.

Orientiert an Hitlers Nazi-Ideologie

Nach dem Untergang der kaiserlich und königlichen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn wird Kassa Teil der neugebildeten Tschechoslowakei. 1938, als Adolf Hitler den Staat der Böhmen, Mähren und Slowaken zerschlägt, gehört die Stadt wieder zum Königreich Ungarn, über das der autoritäre Reichsverweser Miklós Horthy herrscht. In Kassa schalten und walten wieder ungarische Autoritäten und eine davon ist der junge Polizeioffizier Csizsik-Csatáry.

In Admiral Horthys Reich ist Antisemitismus an der Tagesordnung und sogar geltendes Recht. Der Anteil der Juden an den Universitäten wird auf fünf Prozent gedrückt. Mit dem Aufkommen des deutschen Nationalsozialismus verschärft sich die Judenfeindlichkeit und führt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zu Gesetzen, die jüdische Ungarn politisch und ökonomisch diskriminiert.

Von 1941 an kämpfen die Ungarn an der Seite von Hitlers Wehrmacht gegen die Sowjetunion. Machthaber Horthy lässt Rasse-Bestimmungen verabschieden, die sich an den berüchtigten Nürnberger Gesetzen orientieren.

Zur gleichen Zeit soll der Polizeileutnant Csizsik-Csatáry schon bei der Deportation von 300 slowakischen Juden beteiligt gewesen sein, behauptet Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Damals gehen mehrere Transporte aus den ungarisch besetzten Gebieten in Richtung Osten. Dort, in den gerade von den Deutschen eroberten sowjetischen Gebieten, massakrieren auch ungarische Einheiten in Kamenez-Podolsk mehr als 20.000 Zivilisten.

Sadistischer Eifer

1944 gibt es auch in Kassa längst ein Judenghetto, in das Tausende Juden gesperrt sind. Csizsik-Csatáry soll dort - so steht es in den Dokumenten des Wiesenthal-Zentrums, aus denen die Sun zitiert - als Polizeichef die Aufsicht gehabt haben, der er mit sadistischem Eifer nachkam.

An seinem Gürtel führte er angeblich eine Peitsche mit, mit der er Frauen schlug. Im Winter habe er Gefangene gezwungen, mit bloßen Händen einen Graben in den gefrorenen Boden zu treiben. Zur Strafe habe er Gefangene in unangenehme Körperhaltungen gezwungen oder die Hunde losgelassen. Flüchtende seien sofort erschossen worden.

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Admiral Horthy sorgte als Reichsverweser für eine enge Bindung zu Hitler-Deutschland. Am Ende errichteten ungarische Nazis ein mörderisches Regime.

Reichsverweser Horthy zögert, für Hitlers "Endlösung" auch alle ungarischen Juden zu deportieren. Nach einer ersten Welle lässt er 1944 "Evakuierungen" stoppen und will hinter den Kulissen einen Separatfrieden mit den Westalliierten erreichen. Im Oktober 1944 übernimmt das noch radikalere Regime der Pfeilkreuzler die Macht - eine nationalsozialistische Partei, die sich in Ideologie, Herrschaftswesen und Symbolik an Hitlers NSDAP orientiert.

Nun können auch aus dem Land der Magyaren ungehindert die Züge in die Vernichtungsfabriken der SS rollen. Oder es wird gleich in Ungarn gemordet: Todesschwadrone metzeln Tausende Juden, Sinti und Roma in den letzten Kriegsmonaten dahin. Der neue "Führer der Nation" Ferenc Szálasi dürfte ein besonderes Augenmerk auf Kassa haben: Es ist seine Geburtsstadt.

Doch als die Pfeilkreuzler ihre Herrschaft errichten, ist Kassa längst "judenfrei": Schon Ende April 1944 lässt Csizsik-Csatáry den Dokumenten zufolge Juden aus dem Ghetto in eine Ziegelei bringen.

Danach geht es auf eine Reise in den Tod: Sie müssen in Viehwaggons steigen, mindestens 12.000 Frauen, Männer und Kinder. Weniger als 500 von ihnen werden den Krieg überleben. Insgesamt soll Csizsik-Csatáry 15.700 Menschen in Richtung Todeslager geschickt haben.

Ankunft eines Transports auf der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz 1944. (Foto: SCHERL)

"Bei mindestens zwei Transporten war er anwesend für das Verladen, er checkte die Namen der Juden auf der Liste", heißt es in einem Bericht der kanadischen Regierung von 1997. Ein Jahr zuvor war Csizsik-Csatáry aufgeflogen.

Bis dahin gelingt es ihm jahrzehntelang, unentdeckt zu bleiben. In der Tschechoslowakei 1948 verurteilt ihn ein Gericht in Abwesenheit zum Tode, aber der mutmaßliche Verbrecher ist unauffindbar. Längst hat Csizsik-Csatáry sich eine neue Identität zugelegt. Er gibt sich als Jugoslawe aus und übersiedelt nach Kanada, erhält dort 1955 die Staatsbürgerschaft.

Er lebt in Toronto und Montréal und verdient seinen Lebensunterhalt als Kunsthändler. Einem Nachbarn erzählt er, er habe früher als Anwalt gearbeitet. Aber sei dann aus Ungarn emigriert und habe alles zurücklassen müssen.

1996 wird bekannt, wer er wirklich ist. Csizsik-Csatáry streitet damals nicht ab, zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort gewesen zu sein. Er habe nur eine "begrenzte Rolle" gespielt beim Transfer der Juden zur Ziegelei. Ja, er habe zwar die letzten beiden Juden den Deutschen übergeben. Aber "nicht gewusst, wohin die Juden deportiert werden".

Belohnung für den Tippgeber

Überzeugen kann er mit seiner Version des Mitläufers nicht. Schon 1996 zitieren kanadische Zeitungen aus einem Dokument, in dem er 1944 meldete, dass "Individuen der jüdischen Rasse den Deutschen am Bahnhof von Kassa übergeben wurden, damit sie aus dem Land deportiert werden können".

Die kanadische Regierung entzieht Csizsik-Csatáry die Staatsbürgerschaft. Ihm droht nun die Auslieferung an Ungarn, Deutschland oder ein anderes Land, wie es die Kanadier schon beim niederländischen Nazi-Kollaborateur Jacob Luitjens 1992 getan haben. So weit lässt es Csizsik-Csatáry nicht kommen: Er taucht ab. Wohin, das weiß niemand so genau - bis die britischen Reporter ihn jetzt in Budapest finden.

Das Wiesenthal-Zentrum hatte die Journalisten mit Informationen gefüttert. Ein Tippgeber brachte sie auf die entscheidende Spur. Der Informant kassierte eine Belohnung, die die Organisation in der "Operation Last Chance" für das Aufspüren der (heute hochbetagten) NS-Kriegsverbrechern ausgelobt hat. Denn Altnazis gibt es nach wie vor: Solche, die sich mitunter offen bei Szene-Treffen zeigen wie der in Bayern lebende dänische SS-Mann Sören (Søren) Kam. Und solche, die nach vielen Jahrzehnten enttarnt werden wie der Kroate Milivoj Ašner.

Die Informationen des Wiesenthal-Zentrums zum Fall Csizsik-Csatáry liegen nun bei der Staatsanwaltschaft in Budapest. Vize-Staatsanwalt Jenö Varga konnte aber zu dem Fall keine Einzelheiten mitteilen. Er sagte lediglich, eine "Untersuchung" sei im Gange, die Staatsanwaltschaft werte die "eingegangenen Informationen aus".

Ob es zum Verfahren gegen Ladislaus Csizsik-Csatáry kommt, ist offen. Der französische Nazi-Jäger Serge Klarsfeld zweifelt daran: "Ich bin nicht sicher, dass es juristische Folgen haben wird mit dieser konservativen Regierung" unter Ministerpräsident Viktor Orbán, der Ungarn zielstrebig in einen autoritären Staat umbaut.

Manche von Orbans Anhängern zeigen sich offen antisemitisch, manche sympathisieren sogar mit der rassistischen Jobbik-Partei - den Nachfolgern jener Pfeilkreuzler, deren schrecklichen Befehle Csizsik-Csatáry einst umsetzte.

Mit Material von AFP.

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