Nato:Weitermachen nach dem Hirntod

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Nato-Übung BALTOPS 2015 im Ostseeraum: Ob die Staaten dort sich ohne die USA sicher vor Russland fühlen, zählt zu Fragen der europäischen Verteidigung. Im Bild: Finnische Sisu-Pasi-Transportpanzer (Patria Pasi) bei der Verladung auf ein US-Luftkissen-Landungsboot im polnischen Ustka. (Foto: Adam Warzawa/dpa)
  • Beim Treffen der Nato-Außenminister in Brüssel geht es um viele Themen, vor allem aber um die Aussage von Frankreichs Präsident Macron, das Bündnis sei "hirntot".
  • Experten sehen trotz selbstbewusster Bekundungen immer noch eine große militärische Abhängigkeit der europäischen Mitglieder von den USA.
  • Vor allem Osteuropas Staaten vertrauen auf die amerikanische Schutzmacht.

Von Matthias Kolb, Brüssel

An Gesprächsstoff wird es nicht mangeln, wenn die Außenminister der 29 Nato-Mitglieder an diesem Mittwoch in Brüssel zusammenkommen. Chinas militärische Ambitionen, Energiesicherheit, hybride Bedrohungen und die zentrale Bedeutung des Weltraums für die Verteidigung der Bündnispartner: Diese Themen werden die Minister zwei Wochen vor dem Mini-Gipfel in London diskutieren. Zugleich ist das halbtägige Treffen die erste offizielle Zusammenkunft, seitdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Verteidigungsbündnis "hirntot" genannt hat.

Dessen Klage über mangelnde Absprache zwischen den USA und den europäischen Verbündeten - gerade im Fall der türkischen Invasion in Nordsyrien - teilen viele in den Hauptstädten und der Nato-Zentrale. Als "verantwortungslos" bezeichnen es jedoch Diplomaten, dass Macron im Gespräch mit dem Economist Zweifel an der in Artikel 5 garantierten Beistandspflicht erkennen ließ und erklärte: "Europa kann sich selbst verteidigen." Dieser Einschätzung widersprechen sicherheitspolitische Experten, ein Nato-Insider nennt Macrons Aussage gar "blanken Hohn". Mehrmals wird erinnert an ein Zitat Wolfgang Ischingers, des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz: Er sagte im April, Europa und vor allem Deutschland wäre ohne die USA "völlig blind, taub und wehrlos".

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Einer der besten Kenner der europäischen Abhängigkeit ist Bastian Giegerich, Leiter der Verteidigungs- und Militäranalyse am International Institut for Strategic Studies (IISS) in London. Er hat mit Kollegen berechnet, welch immense Summen nötig wären, einen Austritt Washingtons aus der Nato zu kompensieren - und jener "strategischen Autonomie" Europas nahe zu kommen, über die so viel geredet wird. 50 Seiten umfasst die Studie und nennt Zusatzkosten zwischen 95 Milliarden und 357 Milliarden US-Dollar - je nachdem, ob die Europäer nur die internationalen Seewege zu sichern hätten oder gar einen begrenzten Landkrieg mit Russland führen müssten (im IISS-Szenario besetzt Moskau Litauen und Teile Polens). "Wir gehen von einem Zeitrahmen von zwei Jahrzehnten aus", sagt Giegerich der SZ und betont: "Der politische Wille für einen solchen Ausbau an Fähigkeiten müsste über mehrere Wahlperioden anhalten - und das in den meisten europäischen Nato-Staaten."

Die Antwort des Experten auf die Frage, wo Europa besonders angewiesen sei auf die USA, dauert mehrere Minuten - und Giegerichs Liste geht weit über die Abschreckung durch US-Atomwaffen hinaus. Um die 200 sind wegen des Konzepts der "nuklearen Teilhabe" in Deutschland sowie in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei stationiert. Bei der Luft- und Raketenabwehr, inklusive der Frühwarnsysteme, ist Europa ebenso abhängig vom "großen Bruder" wie bei Aufklärung und Geheimdienstinformationen. Es fehlt auch an der Kommandostruktur, um Einsätze von militärischen Großverbänden zu befehligen, also von einer Größenordnung von Zehntausenden Soldaten an. So seien in der Nato nur die USA in der Lage, "die nötige Bandbreite an sicherer Kommunikation bereitzustellen".

Ohne die Amerikaner mangelt es laut Giegerich auch an "Langstreckenbombern und Kampfflugzeugen der neuesten Generation wie der F-35" sowie an der Fähigkeit, mit modernen Lenkwaffen Präzisionsschläge auf große Distanzen auszuführen. Lücken sehen Experten auch bei Seestreitkräften, etwa bei Fregatten, und der Fähigkeit, modernen U-Boot-Krieg zu führen. Zudem sind viele Verbündete auf ganz praktische Unterstützung angewiesen, so bei der Luft-Betankung von Flugzeugen und dem strategischem Lufttransport von Gerät und Soldaten. Im Nato-Hauptquartier weisen zurzeit viele Diplomaten auf eine Tatsache hin: "Auch Frankreich könnte seinen Einsatz in Mali nicht ohne US-Hilfe durchführen."

"Europa muss seinen Beitrag leisten, um Russland glaubhaft abschrecken zu können ..."

Giegerich ist überzeugt, dass die Lücken bei der militärischen Mobilität am leichtesten zu schließen wäre. Ganz allgemein fehlt es Europa momentan auch an den industriellen Fähigkeiten. Mit der Studie habe die Denkfabrik aufrütteln wollen: "Es stimmt nicht, wenn die Europäer sagen, dass sie strukturell nicht die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen." Der Fachmann geht davon aus, dass sich die USA langfristig auf mögliche Auseinandersetzungen mit China ausrichten, was Folgen für die Nato-Partner haben dürfte: "Europa muss seinen Beitrag leisten, um Russland glaubhaft abschrecken zu können und dazu beitragen, China einzuhegen."

Wie hoch genau die Investitionen sein müssten, ist kaum berechenbar. Zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu stecken, darauf hatten sich die Nato-Mitglieder in Wales verpflichtet. Dieser Anteil reicht laut Giegerich nicht, um alle Fähigkeiten der USA zu ersetzen. Aber er betont, dass bei Erfüllung der Quote jährlich 100 Milliarden Euro zur Verfügung stünden, die - im Idealfall - koordiniert und effizient eingesetzt werden könnten. Deutschland komme eine Schlüsselrolle zu, denn bei bisher knapp 1,4 Prozent der Wirtschaftleistung ist noch viel Luft. Großbritannien und Frankreich investieren 2,13 beziehungsweise 1,82 Prozent: "Bei beiden Staaten ist das Limit fast schon erreicht."

Seit Tagen beteuern französische Diplomaten in ganz Europa, die Nato nicht abschaffen zu wollen. Nach Macrons Interview steht aber die Frage im Raum, ob die Atommächte Großbritannien und Frankreich Europa schützen und Russland ausreichend abschrecken könnten. Aus strategischer Sicht sei dies vielleicht denkbar, meint IISS-Experte Giegerich. Die Frage sei eher, ob die Osteuropäer, allen voran Polen, Estland, Lettland und Litauen, das gleiche Vertrauen in Paris wie in Washington hätten. Als Reaktion auf Russlands Annexion der Krim sind in allen vier Staaten "battlegroups" der Nato stationiert, mit je 1000 Soldaten. Die USA führen das Kommando in Polen - und die Balten werben dafür, zumindest einige Dutzend Amerikaner bei ihnen zu stationieren. Ihr Kalkül: Wladimir Putin klar zu machen, dass er sich im Ernstfall mit den USA anlegen würden.

© SZ vom 20.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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