Nachrüstung:Gegen Cowboys und Raketen

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Sogar Bundeswehrsoldaten protestierten im Oktober 1983 im Bonner Hofgarten gegen die Rüstungspläne der Nato, zusammen mit hunderttausenden weiteren Demonstranten. (Foto: Heinz Wieseler/dpa)

1979 beschloss die Nato, neue Nuklearwaffen in Westeuropa zu stationieren - dagegen gab es Massenproteste.

Von Joachim Käppner und Roland Preuss

Der Pastor, dessen schlohweißer Haarschopf in Mutlangen unter den Sitzblockierern unübersehbar ist, war Kampfflieger der Wehrmacht gewesen. 1944 hatte er als einer von wenigen Kameraden Einsätze gegen die alliierte Invasionsarmee überlebt. Jörg Zink, kämpferischer Schwabe, sah es als Verpflichtung an, eine Rückkehr des großen Sterbens zu verhindern, wenn er predigte: "Wer den Gedanken zulässt, das alles könne sich mit dem tausendfachen Vernichtungspotenzial von 1984 wiederholen, und wem dabei nicht der Boden unter dem Füßen weich wird, der ist kein politischer Mensch." Manchmal öffnete sich das Kasernentor, hinter dem die Pershing 2-Atomraketen der USA stationiert waren, und Ruprecht von Butler kam heraus, der zuständige deutsche General. Die beiden Herren waren alte Bekannte und schätzten sich sehr. Vielleicht nicht völlig typisch für seinesgleichen sagte Butler später, er habe keinen Groll gegen die meist jungen Menschen gehegt, welche die Kaserne zu blockieren versuchten. Er glaubte zwar nicht, dass sie im Recht waren, aber eine Demokratie, deren Bürger "zu Hunderttausenden für Frieden und Abrüstung demonstrieren, dürfte im Ostblock eigentlich kaum Bedrohungsgefühle auslösen".

Kanzler Helmut Schmidt verlor beim Thema Nachrüstung mehr und mehr an Rückhalt

Wenn nun über einen mutmaßlichen Bruch des INF-Abkommens von 1987 durch Russland und eine eventuelle Nachrüstung des Westens diskutiert wird, weckt das Erinnerungen an den Bürgeraufstand gegen den Nato-Doppelbeschluss vom Dezember 1979. Damals zeigte sich, welche politische Wucht im Thema Aufrüstung steckt. Für die ohnehin ihrem Spätherbst entgegengehende sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt erwies sich die "Nachrüstungsdebatte" als einer der Nägel zu ihrem Sarg. In der SPD verlor der Kanzler wegen der Raketenfrage an Rückhalt, immer mehr Genossen lehnten die Stationierung der US-Raketen in der Bundesrepublik ab. Als Helmut Schmidt 1981 auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg seine Motive für die Nachrüstung erklärte, wirkte er wie ein Besucher von einem fremden Planeten. Gefeiert wurde sein Hauptkontrahent Erhard Eppler, SPD-Mitglied und Kirchentagspräsident. Als 1981 Hunderttausende im Bonner Hofgarten gegen den Doppelbeschluss demonstrierten, waren auch Dutzende SPD-Abgeordnete darunter. Fast fünf Millionen Menschen unterzeichneten den "Krefelder Appell" gegen die Nachrüstung; dass der Anstoß dazu von Markus Wolf gekommen war, dem Chef der Stasi-Auslandsspionage, war im Nachhinein zwar peinlich, spielte aber eigentlich keine Rolle. Hier ging es nicht um Agententricks, sondern um eine gesellschaftliche Umwälzung.

Die Stimmung Anfang der 1980er-Jahre in Westdeutschland war eindeutig, wie der Historiker Wolfram Wette in seinem neuen Buch "Ernstfall Frieden" schreibt, es entstand "eine bis dahin beispiellose Massenbewegung gegen die Atomrüstung"; doch konnte diese Kraft, "obwohl von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, nicht verhindern, dass eine Bundestagsmehrheit dem Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses zustimmte".

Dafür wurden der Pazifismus, der Wunsch nach "Frieden schaffen ohne Waffen", den die Demonstranten skandierten, zum Lebensgefühl der Achtzigerjahre. Peace-Zeichen auf Parkas, Palästinensertücher, Menschenketten und Sitzblockaden vor US-Stützpunkten, ein Linksruck der evangelischen Kirche, der Aufstieg der sozialen Bewegungen bis hin zu den Grünen - das alles machte schon äußerlich deutlich, dass ein erheblicher Teil vor allem der Jugend mit der Logik des Kalten Krieges nichts mehr im Sinn hatte. Die USA sah man weniger, wie es die Elterngeneration noch getan hatte, als Schutzmacht, sondern als "Cowboy der Weltpolitik". Im Bonner Hofgarten sangen Schüler "Sonne statt Reagan".

Politisch war die Sache komplexer als sie vielen erschien, die glaubten, der 1980 gewählte erzkonservative US-Präsident Ronald Reagan riskiere einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion, die er als "Reich des Bösen" geschmäht hatte. Die Sowjetunion allerdings hatte zuvor moderne Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 und auch ältere Modelle auf Westeuropa gerichtet, die Nato wollte vor allem mit Pershing 2 "nachrüsten", mit dem Ziel, dass beide Seiten einmal auf diese Waffen verzichten würden (daher der Name "Doppelbeschluss").

Diesen zweiten Teil nahm Reagan in Deutschland kaum jemand ab. Für die DDR erwies sich der Krefelder Appell sogar als Bumerang, weil der Wunsch nach Überwindung der Blöcke und der Logik der Abschreckung auch ihre eigenen Bürger erfasste. Die INF-Verhandlungen zwischen Sowjets und Amerikanern in Genf 1981/82 boten Schmidt eine Atempause, doch ihr vorläufiges Scheitern im Sommer ließ die Debatte wieder entbrennen. Die FDP floh aus der Regierung, Schmidt stürzte, und es begann die lange Ära von Helmut Kohl.

1991 unterzeichneten Sowjet-Staatschef Michail Gorbatschow (li.) und US-Präsident Ronald Reagan den INF-Abrüstungsvertrag, dessen Ende nun droht. (Foto: Dennis Paquin/Reuters)

Im Dezember 1987 geschah dann doch, woran die Friedensbewegung nicht geglaubt hatte: Der INF-Vertrag leitete eine drastische nukleare Abrüstung und mittelbar das Ende des Kalten Krieges ein. Plötzlich war er zu spüren, der "Hauch jenes Friedens, der unsere Menschenvernunft übersteigt", für den Jörg Zink in Mutlangen gebetet hatte.

Die Lage heute ist bei allen Parallelen zu damals in mancher Hinsicht anders: Viele Bundesbürger haben sich an die atomare Abschreckung, die jahrzehntelang funktioniert hat, gewöhnt. Russland gilt vielen seit der Annexion der Krim als Aggressor. Und die Friedensbewegung hat ohne die bedrohliche Block-Konfrontation der 1980er-Jahre an Bedeutung verloren. Sollte der Raketenkonflikt, in welcher Form auch immer, nun zurückkehren, müsste sie ziemlich von vorn anfangen. Jörg Zink wird seine Stimme nicht mehr für den Frieden erheben können: Er starb 2016 in Stuttgart.

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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