Man kennt schon diesen Ausdruck in seinem Gesicht: Kofi Annan, besonnen und besorgt zugleich. Als Elder Statesman ist der frühere UN-Generalsekretär immer noch gefragt, wenn es um die Entschärfung von Krisen geht. Am 24. August trat er also vor die Presse und sprach über die verfahrene Lage im Westen Myanmars. Dort hat sich Hass zwischen Muslimen und Buddhisten aufgestaut, viel, viel Hass. Die Regierung hatte Annan vor einem Jahr mit der Leitung einer Kommission beauftragt, um Lösungen zu erarbeiten. Nun legten die Experten ihren Bericht vor. Und Annan verknüpfte ihn mit dem dringlichen Appell: "Es gibt keine Zeit zu verlieren. Die Lage in Rakhine wird immer prekärer."
Rakhine liegt im äußersten Westen Myanmars. Myanmar ist ein ganz überwiegend buddhistisches Land. Aber dort, im Küstenland, an der Grenze zu Bangladesch, gibt es eine starke muslimische Minderheit, deren Vorfahren einst aus Bengalen einwanderten. Ohne diplomatische Schnörkel lautet Annans Botschaft wohl so: Die Regierung Myanmars hat die Probleme in der Provinz viel zu lange verschleppt, das könnte sich bald rächen. Ob Annan schon ahnte, dass eine neue Runde der Gewalt nicht mehr aufzuhalten war? Es dauerte jedenfalls nur Stunden, bis es in Rakhine krachte.
Rettung in Bangladesch: Mittlerweile dürften weit mehr als eine halbe Million Rohingyas aus Myanmar dorthin geflohen sein.
Rohingya fliehen auch über das Wasser, über einen Arm des Naf-Flusses, ins Nachbarland. Bloß dort will sie auch fast niemand haben.
Die Minderheit wird von der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft in Myanmar unterdrückt.
Im Gebiet des Staates Rakhine, wo sich die Rohingya vor Generationen wahrscheinlich als Wanderarbeiter niederließen, kam es in den vergangenen Tagen zu Bränden ganzer Dörfer.
Diese Frau ist von ihrer Flucht völlig erschöpft. Sie hat es geschafft, die Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch zu überqueren.
Eine Kommission um den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan stufte die Rohingya als größte staatenlose Gruppe der Welt ein.
Aufgrund der vielen Geflüchteten sind die Notunterkünfte in Bangladesch überlastet. Die Regierung in Dhaka sicherte jedoch zu, eine weitere Unterkunft zu errichten
Die Regierung sprach von "bengalischen Extremisten", die 30 Polizeiposten attackiert hätten. Mehrere Sicherheitskräfte starben. Die Angreifer waren nicht besonders gut bewaffnet, aber es reichte für ein blutiges Fanal. Dass dies so kurz nach Annans Auftritt geschah, war kaum Zufall. Wer immer die treibenden Kräfte hinter den Attacken waren: Sie wollten, dass die Lage eskaliert.
Als Urheber der Attacken meldete sich alsbald die "Arakan Rohingya Salvation Army", kurz Arsa. Ihr Anführer Ata Ullah rechtfertigte die Morde: "Dies ist ein legitimer Schritt, um das meistverfolgte Volk der Welt zu verteidigen und die Unterdrückten aus der Hand der Unterdrücker zu befreien." Arsa reklamiert für sich die Rolle des Retters aller Rohingya, denen die Regierung in Myanmar die Staatsbürgerschaft verwehrt. Die betrachtet die Rohingya als illegale Einwanderer und will sie keinesfalls als ethnische Minderheit anerkennen. Genau das aber fordert die Arsa.
Myanmars Militär weist alle Vorwürfe zurück
Eine wohl beispiellose Explosion der Gewalt ist seither die Folge. Die Armee durchkämmt die Hügel des Küstenlandes, sie hat die Region abgeriegelt und bezeichnet die Rohingya-Miliz als bengalische Terroristen, die den gesamten Staat bedrohten. Seither häufen sich die Vorwürfe, dass die Soldaten bei ihrer Jagd nach den Rebellen Gräueltaten an wehrlosen muslimischen Zivilisten in der Provinz begangen haben. Myanmars Militär weist die Anwürfe routiniert zurück.
Welche Verbrechen auch immer geschehen in Rakhine, sie bleiben bislang ungesühnt. Für unabhängige Beobachter ist es sehr schwierig, sich ein halbwegs scharfes Bild von der Lage zu verschaffen. Einige Fakten allerdings erscheinen unverrückbar: Es wird gekämpft, offenbar sind es schwere Kämpfe. Zwar gibt es über die Zahl der Toten keine verlässlichen Angaben, die Regierung spricht von 400. Die Vereinten Nationen vermuten aber, dass es mehr als 1000 sein dürften. Und nicht weniger als 270 000 Menschen, überwiegend Rohingya, sind allein in den vergangenen zwei Wochen ins Nachbarland Bangladesch geflohen, meist Frauen und Kinder. Die UN rechnen damit, dass die Zahl noch auf 300 000 steigen könnte. In Bangladesch leben bereits 400 000 Rohingya, die in früheren Jahren geflohen waren. So verschärft sich das Flüchtlingsdrama Tag für Tag.
Zwar haben die Behörden in Myanmar inzwischen einige Journalisten ins Krisengebiet gelassen. Doch unabhängig recherchieren können sie kaum, sie werden überwacht und bekommen in zerstörten Dörfern immer wieder ähnliche Geschichten zu hören, die natürlich die Regierungsversion der Ereignisse stützen. Demnach waren es die Aufständischen, die Tausende Häuser der Rohingya in Brand setzten. Geflohene Bewohner, die es über die Grenze nach Bangladesch geschafft haben, berichten das Gegenteil. Sie machen die Sicherheitskräfte Myanmars verantwortlich, manche erzählen, Soldaten hätten wahllos auf Bewohner geschossen. Sie berichten von radikalen Buddhisten, die Jagd machen auf Muslime und deren Besitz plündern.
Die Menschen geraten dabei offenbar zwischen die Fronten von Militär und der selbsternannten Rohingya-Miliz. Muslimische Bewohner in Nord-Rakhine berichteten einer Reporterin der in Thailand erscheinenden Zeitung The Irrawaddy, dass sie sich den Rekrutierungsversuchen der Arsa widersetzt hätten und mit der Miliz nichts zu tun haben wollten. Dennoch stehen sie offenbar als mutmaßliche Unterstützer der Rebellion unter Generalverdacht der Armee.
Einiges spricht dafür, dass Arsa zumindest Kontakte zu Extremisten in anderen Ländern Asiens und Nahost aufgebaut hat. Arsa-Chef Ata Ullah wiegelt ab: "Wir sind keine Dschihadisten." Ihr Kampf ließe sich eher mit jenen Rebellionen vergleichen, die andere Gruppen gegen den Staat führen. Tatsächlich kämpfen zahlreiche ethnische Minderheiten an den Rändern Myanmars gegen die Armee. Versuche, einen allumfassenden Frieden auszuhandeln, sind gescheitert.
Der UN-Generalsekretär warnt, die Gewalt könne die gesamte Region destabilisieren
Die meisten Experten sind sich einig, dass Elend und Perspektivlosigkeit viele Rohingya weiter radikalisieren dürften. Doch bisher hat die Regierung von Myanmar nicht signalisiert, dass sie zu Zugeständnissen bereit wäre. Seitdem die Regierung sich nun auch von muslimischen Terroristen in Rakhine bedroht sieht, ist damit ohnehin nicht mehr zu rechnen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Konflikt nicht im Streit um rechtliche Fragen erschöpft; die Spannungen zwischen dem buddhistischen Küstenvolk der Rakhine und den Muslimen mit bengalischen Wurzeln reichen weit zurück. Armut, Verteilungskämpfe und das Ringen um eine eigenständige Identität spielen dabei eine Rolle. Und auch die Militärjunta, die Myanmar so lange beherrschte, hatte manchmal die Finger im Spiel, wenn der Konflikt in vergangenen Jahren eskalierte.
Kenner der Geschichte und Kultur in Rakhine mahnen, dass sich Friedens- und Entwicklungspläne nicht ausschließlich auf die Rohingya konzentrieren dürften. Auch die Nöte der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit müssten gesehen werden. Ansonsten könne es geschehen, dass Hilfe mehr spaltet als heilt. Doch Aufbauhilfe und Versöhnungsgespräche sind in weite Ferne gerückt, seitdem die Armee nun die Aufständischen jagt.
Eines indes ist der Miliz mit ihren Überfällen gelungen: Die Welt blickt wieder auf Myanmar. Und sie spricht endlich über das Elend der Rohingya. So explosiv scheint die Lage mittlerweile zu sein, dass der amtierende UN-Generalsekretär António Gutterres warnt, die Krise könne die ganze Region destabilisieren. Tatsächlich schürt die Gewalt die Spannungen unter den Ländern Südostasiens. Vor allem in den mehrheitlich muslimisch bevölkerten Staaten Indonesien und Malaysia wächst die Empörung über Myanmar, weil die Regierung erkennbar nichts tut, um die Not der Rohingya zu lindern.