Münchner Neueste Nachrichten vom 16. Juli 1914:Schrille Warnung vor Österreichs "Zersetzung"

Lesezeit: 4 min

Zar Nikolaus II. (Mitte) während eines Manövers in Krasnoje Selo. Die Aufnahme entstand vor Ausbruch des Weltkrieges. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Heute vor 100 Jahren: Ein Korrespondent wirft der Regierung des Zaren finstere Pläne vor, ein Mikro-Staat nahe Aachen will sein 100-jähriges Bestehen feiern, in Frankreich fliegen deutsche Spione auf. Und am Münchner Marienplatz drängt sich eine Menschenmenge - aus dem selben Grund wie 2014.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die Münchner Neuesten Nachrichten müssen sich am 16. Juli in einer wichtigen Personalie korrigieren: "Rasputin am Leben", heißt der Titel einer Meldung. Das Blatt hatte den Russen, den einige für einen Heiligen, andere für einen sexsüchtigen Scharlatan halten, unlängst für tot erklärt, nachdem ihn eine Attentäterin aufgeschlitzt hatte.

Doch Rasputin überlebte die schweren Verletzungen am Unterleib, heißt es nun. Eine Operation sei "günstig verlaufen". Eine Hofdame der ihm vertrauten Zarin sei zu ihm gereist, ebenso habe Zar Nikolaus II. seinen Leibarzt zu dem bärtigen Patienten mit dem stechenden Blick geschickt. (Zwei Jahre später sollte Rasputin brutal ermordet werden, ein Verbrechen, in das auch die Herrscherfamilie verwickelt sein wird.)

Wissenswertes zum Ersten Weltkrieg
:Mythen, Fakten und der "Lange Max"

Warum starben am Karfreitag 1918 fast 100 Menschen in einer Pariser Kirche? Wieso wurden im deutschen Heer die Juden gezählt? Und was geschah im Skagerrak? Antworten auf 19 Fragen zum Ersten Weltkrieg.

Von Oliver Das Gupta

Es gibt noch einen prominenteren Text über Russland in der Ausgabe vom 16. Juli 1914. Auf der Titelseite geißelt ein namentlich nicht genannter Korrespondent aus der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg die Außenpolitik des Zarenreichs aufs Schärfste. Russland verfolge eine "Einkreisungspolitik", schreibt er.

Aktueller Aufhänger ist die Reise von Frankreichs Präsidenten Raymond Poincaré nach Russland, die derzeit stattfindet. Tatsächlich vereinbaren die Staatsführungen bei der Visite eine vertiefte Kooperation, gerade mit Blick auf einen möglichen Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland, gegen das Frankreich 1871 einen Krieg und in der Folge Elsaß-Lothringen verloren hatte.

Der Artikel geht aber noch weiter: Er unterstellt, dass Paris und Sankt Petersburg eine Allianz von mittel- und nordeuropäischen Staaten schmieden wollen. Auf dem Balkan gehe die russische Diplomatie am energischsten vor, die Strippen habe der Botschafter in Serbien, Nikolaus Hartwig, gezogen ( wobei der Autor verschweigt, dass Hartwig wenige Tage zuvor unter dubiosen Zuständen gestorben war).

Außerdem wollten die Russen eine Kohlenstation auf Borneo übernehmen, klagt der Korrespondent der Münchner Neuesten Nachrichten. Die Zeilen wirken aus heutiger Sicht paranoid, doch sie zeigen anschaulich, wie sehr Misstrauen und Konflikt die Gesellschaft (nicht nur in Deutschland) damals prägten.

Buch über den Juli 1914
:Weltkrieg als Notlösung

Angenehm nüchtern und schlank kommt Gerd Krumeichs Buch zum Kriegsausbruch 1914 daher. Eine Bilanz, nennt es der Historiker. Doch es geht auch um die Frage nach der Kriegsschuld.

Von Rainer Stephan

Der Artikel in der SZ-Vorgängerin strotzt vor Unterstellungen und martialischer Sprache: Russland arbeite an der "Zersetzung Österreich-Ungarns" heißt es. "Die Minen sind gelegt" und "der russische Weizen blüht". Die Männer des Zaren wollten die (damals auf Deutschland, Österreich und Russland aufgeteilten) Polen vereinnahmen. Sankt Petersburg würde darum "mildere Saiten" aufziehen, formuliert der Autor schön schief. Er unterstellt auch dem ungarischen Ministerpräsidenten István Tisza heimlich an einem Ausstieg aus der Doppelmonarchie zu arbeiten.

Was der Autor nicht weiß: Derselbe Tisza hat sich zwei Tage zuvor mit der kaiserlichen Führung in Wien darauf verständigt, der serbischen Regierung ein unannehmbares Ultimatum zu stellen. Die Ablehnung soll den Österreichern den Vorwand geben für eine Militäraktion gegen die verhassten Serben.

Der Kaiser trinkt Tee mit einem Maler

Nach außen geben sich Österreich und die deutsche Führung betont friedlich. Der austriakische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der schon lange auf einen Krieg gegen Serbien drängt, verabschiedet sich in den Sommerurlaub, wie die Zeitung meldet.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. schippert auf seiner Nordlandfahrt an den Küsten Skandinaviens entlang. Der Monarch ist nun im norwegischen Balestrand an Land gegangen und besucht den Künstler Hans Dahl. Der Maler gilt als kaiserfreundlich. Wilhelm II. wird nach seiner Abdankung 1918 eines seiner Gemälde mit ins niederländische Exil nehmen. Doch im Juli 1914 besucht er Dahl in dessen Anwesen und trinkt Tee in seinem Garten.

Die bizarrsten Zitate von Kaiser Wilhelm II.
:"Blut muss fließen, viel Blut"

Martialisch, selbstherrlich und unfreiwillig witzig: Zitate von und über Wilhelm II., den letzten deutschen Kaiser.

Cornelius Pollmer und Oliver Das Gupta

Die zur Schau gestellten Urlaube der deutschen und österreichischen Spitzen gehören ebenso zur Täuschung, wie die abgedruckten Äußerungen von Ungarns Premier Tisza: Mit Blick auf die mutmaßlich in Serbien geplante Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand erklärt Tisza, dass seine Regierung "durchdrungen ist", eine "Erhaltung des Friedens" zu erreichen.

Dass das geheuchelt ist, zeigt Tisza einige Sätze später, indem er betont: "Jeder Staat muss den Krieg als ultima ratio wollen, wenn Staat und Nation weiterhin aufrecht erhalten werden sollen." Dann empört sich Tisza über die gegen die Habsburger-Monarchie gerichtete serbische Propaganda. Das Übel "müsse man bei der Wurzel fassen, aber bitte "ohne jede Panik, ohne Furchtsamkeit und (...) ohne großen Lärm". Da dachte der Ungar (wie auch die anderen eingeweihten Spitzen in Wien) wohl an einen kurzen Feldzug gegen Serbien - ein Weltenbrand scheint damals unvorstellbar.

Auch andere Meldungen in der Zeitung vor 100 Jahren enthalten finstere Vorzeichen: Die britische Flotte vollzieht eine "Probe-Mobilmachung". Die Royal Navy meldet 493 einsatzbereite Kriegsschiffe. In Frankreich fliegen deutsche Spione auf.

Eine deutsche Staatsbürgerin mit polnischem Hintergrund ist in Toulon verhaftet worden, dabei sei den Ermittlern "viel belastendes Material" in die Hände gefallen, etwa kompromittierende Briefe und Fotos der örtlichen Militäranlangen. In der Hafenmetropole Marseille nimmt die Polizei einen gesuchten Mann in Gewahrsam, der einige Tage zuvor im damals französischen Algier geheime Militärunterlagen gestohlen hat.

Bekannte Spionage-Fälle
:Agenten, Informanten, Verräter

Ein historischer Überblick von Oberst Redl, über Mata Hari bis zu Günter Guillaume.

Von Kim Björn Becker, Oliver Das Gupta und Markus C. Schulte von Drach

In jenen Tagen, als sich Unheil in Europa zusammenbraut, bereitet sich eine Mikronation auf ihr 100-jähriges Bestehen vor: Altenberg, oder auch Neutral-Moresnet genannt. Der nicht einmal vier Quadratkilometer große Landstrich nahe Aachen war 1814 entstanden. Damals konnten sich die Sieger über Napoleon nicht einigen, welche Nation den rohstoffreichen Flecken erhalten soll.

Die kuriose Lösung: Man erklärte das zwischen dem späteren Belgien, den Niederlanden und Preußen gelegene Altenberg zum eigenen, neutralen Staat. Zwei Kommissare verwalten abwechselnd die Mikronation, man spricht Deutsch, Niederländisch und Französisch, versucht sich als Esperanto-Keimzelle, es gilt noch der Code Napoleon, "überhaupt ist in diesem Ländchen alles gemischt", schreibt die Zeitung. Die kleine Republik werde in diesem Sommer die Hundertjahrfeier ihrer Unabhängigkeit begehen.

Dazu soll es nicht mehr kommen: Zwei Wochen später werden deutsche Truppen Moresnet besetzen, es ist ein Völkerrechtsbruch wie der Einmarsch in die neutralen Länder Luxemburg und Belgien. Nach dem Ersten Weltkrieg geht das Gebiet in Belgien auf.

Attraktion am Marienplatz - damals wie heute

Die Münchner Neuesten Nachrichten schreiben aber heute vor 100 Jahren auch von Touristen, die in der bayerischen Hauptstadt Urlaub machen. "In den Tagen des Fremdenverkehrs gegen 11 Uhr vormittags" dränge sich eine Menschenmenge auf dem Marienplatz, heißt es in einer Lokalreportage. Ein Preuße berlinert ungeduldig: "Wann jeht denn der Mumpitz mal los". Auch ein "biederer Schwabe" wird zitiert, ebenso ein Sachse und ein Münchner, die allesamt in ihren heimischen Dialekten wiedergegeben werden.

Dann geht es los. Schlag elf richten sich die Blicke auf den neogotischen Turm des Rathauses. Dort tanzen Schäfflerfiguren und Narren, ein Ritter wird von einem anderen per Lanze aus dem Sattel gehoben, dazu erklingt das Glockenspiel.

So viel hat sich auch 100 Jahre nicht verändert. Nur, dass sich heute auch Menschen aus Italien, China und aus der übrigen Welt auf dem Marienplatz versammeln, um das kleine Schauspiel zu verfolgen.

MeinungStaaten und ihre Vergangenheit
:Nur wer die Geschichte kennt, versteht die Gegenwart

Die Wirkmächtigkeit des Vergangenen zeigt sich heute im Fall der Ukraine. Die Deutschen verwandelten im Zweiten Weltkrieg die Region zur Todeszone für Abermillionen Menschen. Trotz der historischen Verantwortung muss man die gewaltbereite Machtpolitik Wladimir Putins benennen - und verurteilen.

Ein Kommentar von Kurt Kister
© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Erster Weltkrieg in Belgien
:Deutschlands folgenschwerer Überfall

1914 marschieren die Deutschen ins neutrale Belgien ein, um Frankreich zu besiegen - für Großbritannien der Grund, dem Kaiserreich den Krieg zu erklären. Die Deutschen verüben Massaker an belgischen Zivilisten, die Front frisst sich durchs Land.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: