Muammar al-Gaddafi:Letztes Gefecht eines alten Revolutionärs

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Gaddafi könnte man mit seiner pittoresken Amazonen-Garde, seinem Empfängen im Beduinenzelt, seinen Gewändern, Uniformen und Brillen, deren Provenienz irgendwo zwischen Armani und Atze Schröder liegt, als verrückten Diktator abtun. Aber er ist der letzte der Nationalrevolutionäre des 20. Jahrhunderts. Und die waren mal Hoffnungsträger. Doch nun wird der Revolutionär a. D. zum Opfer der Revolution.

Kurt Kister

Es fällt leicht, Muammar al-Gaddafi auf das Seltsame zu reduzieren. Zumal dann, wenn man im Inneren jenes Bezirks gewesen ist, den Gaddafi in der libyschen Hauptstadt Tripolis bewohnt - oder vielleicht muss man heute schon sagen: bewohnt hat. Man erreichte Gaddafis innerstädtisches Dorf, nachdem man viele Mauergürtel und MG-bewehrte Kontrollpunkte passiert hatte. Hie und da sah man Angehörige seiner pittoresken Amazonen-Garde: hochgewachsene Frauen in Tarnanzügen, die so wirkten, als seien sie einem US-Klamaukfilm über einen mad dictator entsprungen. Gaddafi selbst empfing in seinem berühmten Beduinenzelt, neben dem eine Kamelherde weidete. Er trug an jenem Abend, als ihn der damalige Bundeskanzler Schröder besuchte, ein langes Gewand sowie eine vielfarbige Brille, deren Provenienz irgendwo zwischen Armani und Atze Schröder lag. Außerdem hielt er, als sei sie ein Szepter, eine große TV-Fernbedienung in der Hand.

Gewiss, es gab den Gaddafi mit den orientalisierenden Lehár-Uniformen, der sich Fotos an die Ordensbrust klebte und Reden hielt, in denen er Kindergärten mit Geflügelfarmen verglich. Man würde es sich aber zu leicht machen, wenn man den Libyer nur als durchgeknallten Autokraten beschriebe, der mit harter Hand und einem partiell selbständigen Unterdrückungsapparat ein Land mehr als 40 Jahre lang versklavt hat.

Gaddafis Aufstieg begann 1969; als 27-jähriger Hauptmann putschte er mit Kameraden nach dem Vorbild der ägyptischen Offiziere um den späteren Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegen den libyschen König Idris. Libyen war nach der Kolonisierung durch die Italiener zwischen 1911 und 1943 sowie der Befreiung durch die Alliierten unter Idris zwar ein souveräner Staat geworden, de facto aber hatte es ein Klientenverhältnis zu Amerika.

Der Umsturz wurde im Land als ein Akt der Entkolonialisierung verstanden. Gaddafi ließ alle ausländischen Militärstützpunkte schließen, darunter die riesige US-Air Base Wheelus, die Ölindustrie wurde verstaatlicht und sämtliche Italiener wurden zur Ausreise gezwungen. Politisch berief sich Gaddafi, der seine Mit-Putschisten schnell in den Hintergrund drängte, zunächst auf Nasser, bevor er 1973 eine eigene Staatstheorie in seinem "Grünen Buch" niederlegte. Sie ist eine Mischung aus Wüsten-Maoismus, Ablehnung von Parteien sowie beduinischem Stammtisch, was Frauen, Glück und Privatbesitz angeht. In Libyen gibt es diverse Denkmäler für das Grüne Buch - eines davon an einem Ort an der Küste, wo Gaddafi diverse Eingebungen für sein Buch erhielt.

Gaddafis Weltbild wurde nicht nur bestimmt vom antikolonialen Nationalismus, wie er in Ägypten die Gruppe um Nasser, aber auch in Syrien die Leute um Hafis al-Assad prägte. Jenseits dessen berief sich Gaddafi auch immer auf den Mythos um den Freiheitskämpfer Omar al-Muchtar. Al-Muchtar, westlichen Kinoveteranen als "Der Löwe der Wüste" mit Anthony Quinn vertraut, führte in der Cyrenaika im östlichen Libyen einen Kleinkrieg gegen die italienischen Besatzer. Gaddafi stammt aus einer Gegend, die von der Cyrenaika so weit entfernt ist wie von der Hauptstadt Tripolis. Die regionalen Unterschiede in Libyen sind bedeutend, auch weil Familien und Stämme immer noch sehr bedeutend sind.

Gaddafis Credo, das so auch im Grünen Buch nachzulesen ist, war aber neben einem arabischen Spezial-Sozialismus auch immer die Einheit der Nation. Die Tatsache, dass der jüngste Aufruhr in Städten wie Bengasi und Tobruk begann, zeugt jedoch davon, dass Gaddafis einiges Libyen eine Schimäre geblieben ist. Bengasi ist die größte Stadt der zum Teil grünen Cyrenaika; Tobruk wiederum, Schlachtort im Weltkrieg, ist Ausgangspunkt für Reisen in jene Gegenden der Sahara hinunter zu den Kufra-Oasen, wo die spärlich siedelnden Menschen weder mit Gaddafis Beduinen aus dem weit entfernten Syrtebogen noch mit einem anderen grünen Buch als dem Koran viel anfangen konnten und können.

Muammar al-Gaddafi wurde in jenen Schichten des Landes, die politische Veränderungen überhaupt wahrnahmen, zunächst als Revolutionär und Befreier akzeptiert. Sein Verhalten war allerdings ebenso sprunghaft, wie die Einnahmen Libyens aus dem Öl- und Gasgeschäft unerschöpflich waren. In seiner panarabischen Phase propagierte er gemeinsame Staatsgründungen, die allesamt im Sande verliefen. Als Revolutionär unterstützter er nicht nur Befreiungsbewegungen und Terroristen in aller Welt, sondern ließ auch Anschläge mit Hunderten Toten verüben. In der Sahararegion war er mal Wohltäter, mal imperialistischer Kriegsherr. Auch gegen die Amerikaner führte er Krieg, arbeitete aber dann nach dem 11. September 2001 eng mit ihnen zusammen. Der Westen reagierte auf Gaddafi innerhalb von 40 Jahren mit nahezu allen Möglichkeiten: Sanktionen, Bomben, Schweigen, Staatsbesuchen, Hilfszahlungen.

Gaddafi ist der letzte aus der Reihe der sich selbst verherrlichenden Nationalrevolutionäre des 20. Jahrhunderts. Etliche von ihnen haben sich im Laufe der Jahre - zum höheren Ruhm und Wohlstand der eigenen Sippe - zunehmend eben jenes Landes und seiner Menschen bedient, die sie einst befreien wollten. Gaddafi, der Revolutionär a. D., wird nun zum Opfer der Revolution.

© SZ vom 23.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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